Brunetti 09 - Feine Freunde
Brunetti befürchtet hatte, sollte sich am Montag zeigen, was bei dem mittäglichen Tischgespräch zwischen Vice-Questore Patta und dem Questore herausgekommen war. Der Ruf erging gegen elf Uhr, kurz nach Pattas Ankunft in der Questura.
»Dottore?« rief Signorina Elettra von der Tür seines Zimmers her. Er blickte auf, und da stand sie, in der Hand einen blauen Aktenordner. Er fragte sich kurz, ob sie den Ordner wohl passend zur Farbe ihres Kleides gewählt hatte.
»Ah, guten Morgen, Signorina«, sagte er und winkte sie an seinen Schreibtisch. »Ist das die Liste mit den gestohlenen Schmuckstücken?«
»Ja, und die Fotos«, antwortete sie und gab ihm den Ordner. »Der Vice-Questore hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß er Sie heute vormittag sprechen möchte.« Ihr Ton enthielt keinen Hinweis darauf, daß Gefahr im Verzug sei, also nahm Brunetti die Botschaft nur mit einem Nicken zur Kenntnis. Signorina Elettra blieb stehen, wo sie stand, und er klappte den Ordner auf. Vier Farbfotos waren an das Blatt geheftet; jedes von ihnen zeigte ein Schmuckstück: drei Ringe und ein schön gearbeitetes goldenes Armband, das offenbar mit einer Reihe kleiner Smaragde besetzt war.
»Das sieht ja aus, als wäre diese Journalistin auf den Diebstahl vorbereitet gewesen«, sagte Brunetti, der erstaunt war, daß jemand sich die Mühe machte, seinen Schmuck richtig professionell fotografieren zu lassen; er witterte sogleich Versicherungsbetrug.
»Sind wir das nicht alle?« fragte sie.
Brunetti sah zu ihr auf, ohne aus seiner Verwunderung ein Hehl zu machen. »Das können Sie doch nicht ernst meinen, Signorina.«
»Vielleicht sollte ich es nicht ernst meinen, zumal ich hier arbeite, aber ich kann es sehr wohl ernst meinen.« Und bevor er nachhaken konnte, fuhr sie fort: »Die Leute reden schon von nichts anderem mehr.«
»Bei uns werden weniger Straftaten begangen als in jeder anderen italienischen Stadt. Sehen Sie sich doch mal die Statistiken an«, fuhr er auf.
Sie verdrehte nicht die Augen gen Himmel, sondern begnügte sich mit den Worten: »Sie glauben doch nicht, die Statistiken gäben die Wirklichkeit wieder, Dottore?«
»Wie meinen Sie das?«
»Was denken Sie denn, wie viele Einbrüche oder Diebstähle tatsächlich angezeigt werden?«
»Ich habe es Ihnen eben gesagt. Ich habe die Statistiken gesehen. Die kennen wir alle.«
»Diese Statistiken haben nichts mit der tatsächlichen Kriminalität zu tun, Commissario. Das sollten Sie eigentlich wissen.« Als Brunetti den Köder nicht nahm, fragte sie: »Oder glauben Sie wirklich, daß die Leute es hier noch der Mühe wert finden, ein Verbrechen anzuzeigen?«
»Vielleicht nicht alle, aber die meisten bestimmt.«
»Und ich sage, die meisten nicht«, versetzte sie mit einem Achselzucken, das zwar ihr Auftreten milderte, nicht aber ihren Ton.
»Können Sie diese Meinung begründen?« fragte Brunetti, wobei er den Ordner vor sich auf den Schreibtisch legte.
»Ich kenne drei Leute, deren Wohnungen in den letzten Monaten ausgeplündert wurden und die es nicht gemeldet haben.« Sie wartete, ob Brunetti etwas sagen wollte, und als das nicht der Fall war, fuhr sie fort: »Halt, nein, einer hat es doch getan. Er ist zur Carabinieri-Wache bei San Zaccaria gegangen, um anzuzeigen, daß in seine Wohnung eingebrochen worden sei, worauf der diensthabende Maresciallo zu ihm sagte, er solle am Tag darauf wiederkommen, weil der Tenente - der einzige, der Einbruchsanzeigen entgegennehmen konnte - an dem Tag nicht da war.«
»Und, ist er noch mal hingegangen?«
»Natürlich nicht. Wozu die Umstände?«
»Ist das nicht eine ziemlich negative Einstellung, Signorina?«
»Natürlich ist sie negativ«, gab Signorina Elettra aggressiver zurück, als sie es sich sonst erlaubte, wenn sie mit ihm sprach. »Was für eine Einstellung erwarten Sie denn von mir?« Ihr hitziger Ton vertrieb alles Wohlbehagen aus dem Zimmer, das er sonst in ihrer Gegenwart empfand, und ließ jene müde Traurigkeit zurück, die Brunetti immer überkam, wenn er mit Paola Streit hatte. Um dieses Gefühl loszuwerden, blickte er auf die Fotos und fragte: »Welches hatte denn die Zigeunerin?«
Auch Signorina Elettra war erleichtert über den Atmosphärenwechsel. Sie beugte sich über die Fotos und zeigte auf das Armband. »Die Eigentümerin hat es identifiziert. Und sie hat die Originalquittung noch, auf der es beschrieben ist. Ich glaube zwar nicht, daß es etwas zu bedeuten hat oder sogar etwas nützt, aber sie sagt,
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