Brunetti 09 - Feine Freunde
sie hätte an dem Nachmittag, an dem in ihre Wohnung eingebrochen wurde, auf dem Campo San Fantin drei Zigeuner gesehen.«
»Stimmt«, pflichtete Brunetti ihr bei, »das wird nichts nützen.«
»Das wäre ja auch etwas Neues«, meinte sie.
Unter normalen Umständen hätte Brunetti entgegnet, für Zigeuner gälten dieselben Gesetze wie für alle anderen, aber er wollte die gelöste Stimmung zwischen ihnen nicht wieder gefährden. Statt dessen fragte er: »Wie alt ist der Junge?«
»Fünfzehn, sagt seine Mutter, aber es gibt natürlich keinerlei Unterlagen, keine Geburtsurkunde, kein Schulzeugnis, nichts. Er kann also zwischen fünfzehn und achtzehn sein. Solange sie behauptet, daß er fünfzehn ist, kann man ihm nichts anhaben, und er hat noch drei Jahre, in denen er ungestraft davonkommt.« Wieder spürte Brunetti die heiße Flamme ihres Zorns und tat sein Bestes, ihr auszuweichen.
»Hm.« Er klappte den Ordner zu. »Worüber will der Vice-Questore eigentlich mit mir reden? Haben Sie eine Ahnung?«
»Wahrscheinlich über das Ergebnis seines Gesprächs mit dem Questore.« Ihr Ton verriet nichts.
Brunetti seufzte vernehmlich und stand auf; obwohl die Sache mit den Zigeunern weiter ungelöst zwischen ihnen stand, genügte dieser Seufzer, um wieder ein Lächeln auf ihre Lippen zu bringen.
»Wirklich, Dottore, ich habe keine Ahnung. Er hat mir lediglich aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß er Sie zu sprechen wünscht.«
»Dann werde ich mal hingehen und hören, was er will.«
Brunetti blieb an der Tür stehen, um Elettra den Vortritt zu lassen, dann gingen sie nebeneinander die Treppe hinunter zu Pattas Dienstzimmer mit dem kleinen Vorzimmerchen, in dem sie arbeitete.
Das Telefon klingelte gerade, als sie eintraten, und Signorina Elettra lehnte sich über ihren Schreibtisch, um abzunehmen. »Vorzimmer Vice-Questore Patta«, sagte sie. »Ja, Dottore, er ist da. Ich verbinde.« Sie drückte einen der Knöpfe am Apparat und legte auf. Dann sah sie Brunetti an und zeigte zu Pattas Tür. »Der Bürgermeister. Sie werden warten müssen, bis ...« Das Telefon klingelte wieder, und sie nahm ab. Dem kurzen Blick, den sie ihm zuwarf, entnahm er, daß es ein Privatgespräch war, darum griff er sich die aktuelle Ausgabe des Gazzettino, die zusammengefaltet auf ihrem Schreibtisch lag, und ging ans Fenster, um kurz hineinzuschauen. Er sah sich noch einmal um, und ihre Blicke trafen sich. Sie lächelte, drehte ihren Stuhl andersherum, nahm den Hörer dichter an den Mund und begann zu reden. Brunetti ging auf den Flur hinaus.
Er hatte sich den zweiten Teil der Zeitung genommen, zu dem er am Morgen nicht mehr gekommen war. Die obere Hälfte der ersten Seite befaßte sich mit der laufenden Überprüfung - es geschah alles so halbherzig, daß man von einer Untersuchung kaum reden konnte - des Verfahrens, nach dem der Auftrag zum Wiederaufbau des Teatro La Fenice vergeben worden war. Nach Jahren der Diskussion, der Vorwürfe und Gegenvorwürfe hatten selbst die wenigen Leute, die noch die Chronologie der Ereignisse richtig auf die Reihe bekamen, alles Interesse an den Fakten ebenso verloren wie die Hoffnung auf den versprochenen Wiederaufbau. Brunetti faltete die Zeitung auseinander und überflog die Artikel auf dem unteren Teil der Seite.
Links befand sich ein Foto; er kannte das Gesicht, wußte es aber nirgendwo unterzubringen, bis er in der Bildunterschrift den Namen las: Francesco Rossi, städtischer Inspektor, liegt nach einem Sturz vom Gerüst im Koma.
Brunettis Hände krampften sich um das Zeitungsblatt. Er sah kurz auf, dann las er den Artikel unter dem Foto:
Francesco Rossi, Inspektor beim Katasteramt, stürzte am Samstag nachmittag bei der Abnahme eines Umbauprojekts vom Gerüst eines Hauses in Dorsoduro. Rossi wurde ins Ospedale Civile gebracht, wo man seinen Zustand als »bedenklich« bezeichnet.
Schon lange vor seinem Eintritt in den Polizeidienst hatte Brunetti jeglichen Glauben an den Zufall abgelegt. Er wußte, daß Dinge geschahen, weil vorher andere Dinge geschehen waren. Seit er Polizist war, hatte er dazu noch die Überzeugung gewonnen, daß Zusammenhänge zwischen Geschehnissen - solchen zumindest, mit denen er sich von Berufs wegen zu befassen hatte - selten von der harmlosen Art waren. Franco Rossi hatte keinen besonderen Eindruck auf Brunetti gemacht, außer in dem einen Moment, als er in geradezu panischer Angst die Hand hob, um Brunettis Aufforderung, von der Terrasse aus einen Blick auf die Fenster des
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