Brunetti 09 - Feine Freunde
seinem Kopf. Schließlich blickte er auf, sah Brunetti an und fragte in einem nun nicht mehr arroganten, dafür aber mißtrauischen Ton: »Wer hat Sie gerufen?«
»Ich glaube nicht, daß es eine Rolle spielt, warum wir hier sind«, begann Brunetti, wobei er ganz bewußt im Plural sprach, um die Vorstellung zu erwecken, daß es im Krankenhaus nur so von Polizisten wimmelte, die alle Unterlagen, Röntgenbilder und Krankenblätter beschlagnahmten, Pfleger und Patienten ausfragten und nur das eine Ziel hatten: herauszubekommen, woran Franco Rossi gestorben war. »Genügt es nicht, daß wir hier sind?«
Carraro gab Brunetti den Ausweis zurück und sagte: »Wir haben hier unten kein Röntgengerät, und als wir seine Arme sahen, haben wir ihn zuerst in die Radiologie und dann in die Orthopädie geschickt. Es war das Nächstliegende. Jeder Arzt hätte das getan.« Jeder Arzt im Ospedale Civile, dachte Brunetti, sagte aber nichts.
»Waren die Arme gebrochen?« fragte Brunetti.
»Natürlich waren sie das, beide, der rechte sogar an zwei Stellen. Wir haben ihn nach oben geschickt, um die Brüche einrichten und schienen zu lassen. Etwas anderes hätten wir gar nicht tun können. Es war das übliche Vorgehen. Sowie er das hinter sich hatte, konnten die ihn woandershin schicken.«
»In die Neurologie zum Beispiel?« fragte Brunetti.
Statt einer Antwort zuckte Carraro nur die Achseln.
»Verzeihung, Dottore«, sagte Brunetti mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Ich habe Ihre Antwort leider nicht gehört.«
»Ja, zum Beispiel.«
»Haben Sie Verletzungen an ihm gesehen, die es nahegelegt hätten, ihn in die Neurologie zu schicken? Haben Sie das in Ihren Unterlagen festgehalten?«
»Ich glaube, ja«, antwortete Carraro ausweichend.
»Glauben Sie es, oder wissen Sie es?« bohrte Brunetti.
»Ich weiß es«, gab Carraro endlich zu.
»Haben Sie eine Kopfverletzung vermerkt, wie von einem Sturz?« fragte Brunetti.
Carraro nickte. »Es steht so auf dem Krankenblatt.«
»Aber Sie haben ihn in die Orthopädie geschickt?«
Carraros Gesicht lief wieder blutrot an. Wie müßte es sein, dachte Brunetti, seine Gesundheit in den Händen dieses Mannes zu wissen? »Die Arme waren gebrochen. Ich wollte, daß da etwas gemacht wurde, bevor er in einen Schockzustand käme, darum habe ich ihn in die Orthopädie bringen lassen. Es wäre deren Aufgabe gewesen, ihn in die Neurologie weiterzuschicken.«
»Und?«
Vor Brunettis Augen trat an die Stelle des Arztes der Bürokrat, der vor dem Gedanken zurückschreckte, daß der Verdacht der Pflichtvergessenheit auf ihn statt auf jene fallen könnte, die den Patienten tatsächlich behandelt hatten. »Wenn die in der Orthopädie es versäumt haben, ihn zur weiteren Behandlung woandershin zu schicken, dann ist das nicht meine Schuld. Sie sollten lieber mit denen sprechen.«
»Wie ernst war die Kopfverletzung?« fragte Brunetti.
»Ich bin kein Neurologe«, beeilte sich Carraro zu antworten, ganz wie Brunetti es von ihm erwartet hatte.
»Vorhin haben Sie noch gesagt, Sie hätten die Kopfverletzung auf dem Krankenblatt vermerkt.«
»Ja, da steht sie auch«, sagte Carraro.
Brunetti war versucht, Carraro darüber aufzuklären, daß sein Hiersein nichts mit einem eventuellen Kunstfehlervorwurf zu tun hatte, aber er glaubte nicht, daß der Arzt ihm das abnehmen würde oder, selbst wenn, daß es etwas an seiner Haltung ändern würde. Er hatte im Lauf seines Berufslebens schon mit manchem Beamtenapparat zu tun gehabt, und eine bittere Erfahrung um die andere hatte ihn gelehrt, daß höchstens noch das Militär und die Mafia, vielleicht auch die Kirche, so prompt und ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit, Wahrheit oder Leben in die Automatik des Abstreitens und Vertuschens verfiel wie der Ärztestand.
»Danke, Dottore«, sagte Brunetti in einem abschließenden Ton, der den anderen deutlich überraschte. »Ich möchte ihn sehen.«
»Wen, Rossi?«
»Ja.«
»Er ist in der Leichenhalle«, erklärte Carraro mit einer Stimme, die so kühl war wie der Ort, von dem er sprach. »Finden Sie hin?«
»Ja.«
7
G nädigerweise führte Brunettis Weg ihn kurz ins Freie, nämlich über den Innenhof des Krankenhauses, wo er wenigstens ein Stückchen Himmel und ein paar blühende Bäume zu sehen bekam; er wünschte sich, er hätte die Schönheit der bauschigen Wolken, die er durch die rosa Blüten sah, einpacken und mitnehmen können. Er bog in den schmalen Gang ein, der zum obitorio führte, und fand es ein wenig
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