Brunetti 09 - Feine Freunde
selbst täte das auch.
Der Gedanke an Mittagessen war ihm unerträglich, ebenso die Vorstellung, das vorhin Gesehene mit nach Hause und in seine Familie zu schleppen. Er rief Paola an, um ihr Bescheid zu sagen, ging in die Questura zurück und tat, was ihm so alles einfiel, um sich mit Routinearbeit zu betäuben, solange er auf Rizzardis Anruf wartete. Wahrscheinlich würde die Todesursache für ihn keine Neuigkeit sein, aber wenigstens wäre sie eine Information, die er abheften konnte, und vielleicht würde es ihn sogar ein ganz klein wenig trösten, daß er dieses bißchen Ordnung in das Chaos plötzlichen Todes gebracht hatte.
So verwandte er die nächsten vier Stunden darauf, die Papiere und Berichte, die sich in zwei Monaten auf seinem Schreibtisch angesammelt hatten, zu sichten und alles, was er, ohne es groß verstehen zu wollen, überflogen hatte, ordentlich abzuzeichnen. Er brauchte dafür den ganzen Nachmittag, aber dann war sein Schreibtisch leer, woraufhin er den ganzen Kram sogar noch zu Signorina Elettra hinunterbrachte und ihr, da sie nicht da war, ein Zettelchen mit der Bitte hinterließ, sie möge für die Weiterleitung an den sorgen, der es als nächster zu lesen habe.
Nachdem das erledigt war, ging er zu der Bar bei der Brücke, trank ein Glas Mineralwasser und aß ein getoastetes Käsesandwich. Er nahm sich Il Gazzettino vom Tresen und fand im zweiten Teil den von ihm lancierten Artikel. Erwartungsgemäß stand viel mehr darin, als er gesagt hatte - eine Verhaftung stehe unmittelbar bevor, eine Verurteilung sei unausweichlich und der Drogenhandel im Veneto wirksam zerschlagen. Er legte die Zeitung wieder weg, ging zur Questura zurück und sah auf dem Weg dorthin die Forsythien auf der anderen Seite des Kanals ihre spärlichen gelben Blüten über die Mauer recken.
Wieder an seinem Schreibtisch, sah er auf die Uhr und stellte fest, daß es schon spät genug war, Rizzardi anzurufen. Er griff gerade nach dem Telefon, als dieses klingelte.
»Guido«, begann der Pathologe ohne Einleitung, »als Sie sich heute morgen diese jungen Leute angesehen haben, nachdem ich weg war - hatten Sie da Handschuhe an?«
Es dauerte einen Moment, bis Brunetti seine Überraschung verdaut hatte, und er mußte kurz nachdenken, bevor es ihm wieder einfiel. »Ja, Del Vecchio hatte mir welche gegeben.«
Rizzardi stellte eine zweite Frage: »Haben Sie die Zähne des Mädchens gesehen?«
Wieder mußte Brunetti sich in das Zimmer zurückversetzen. »Mir ist nur aufgefallen, daß sie offenbar noch alle Zähne hatte, anders als die meisten Drogenabhängigen. Warum fragen Sie?«
»Sie hatte Blut an den Zähnen und im Mund«, erklärte Rizzardi.
Die Worte führten Brunetti noch einmal in das verwahrloste Zimmer und zu den beiden Gestalten zurück, die da übereinander auf dem Boden gelegen hatten. »Ich weiß. Es war ihr übers ganze Gesicht gelaufen.«
»Das war ihr eigenes Blut«, sagte Rizzardi mit besonderer Betonung auf dem »eigenen«. Ehe Brunetti hier einhaken konnte, fuhr er schon fort: »Das Blut in ihrem Mund war von jemand anderem.«
»Zecchino?«
»Nein.«
»O Gott, dann hat sie ihren Mörder gebissen?« fragte Brunetti. »Haben Sie genug davon, um...?« Er verstummte, weil er nicht so genau wußte, was Rizzardi alles damit anfangen konnte. Er hatte schon ellenlange Berichte über DNS-Vergleiche und Blut- und Samenproben gelesen, die als Beweismittel dienen konnten, aber er besaß weder das Fachwissen, um zu verstehen, wie das alles vor sich ging, noch die intellektuelle Neugier, um sich für mehr zu interessieren, als daß es eben funktionierte und man auf diese Weise Personen eindeutig identifizieren konnte.
»Ja«, antwortete Rizzardi. »Bringen Sie mir den Täter, und ich kann ihn dem Blut im Mund des Mädchens zuordnen.« Er verstummte, und Brunetti merkte an der gespannten Stille in der Leitung, daß Rizzardi noch viel mehr zu sagen hatte.
»Was gibt's denn?« fragte er.
»Sie waren positiv.«
Was meinte er? Seine Testergebnisse? Die Proben? »Ich verstehe nicht«, gestand Brunetti.
»Beide, der Junge und das Mädchen. Sie waren positiv.«
»Dio mio!« entfuhr es Brunetti, der endlich begriff.
»Das prüfen wir bei Abhängigen immer als erstes. Bei ihm war die Krankheit schon viel weiter als bei ihr; das Virus hatte ihn fest im Griff. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Haben Sie das nicht gesehen?«
Doch, Brunetti hatte es gesehen, aber er hatte es nicht verstanden, oder nicht so genau
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