Brunetti 09 - Feine Freunde
seines Opfers zu einem langsamen, qualvollen Tod verdammt war. Im allgemeinen gebe es in so einem Fall keine Hoffnung, keine Heilmöglichkeit; nur in ganz, ganz seltenen Fällen, wenn der Biß rechtzeitig mit einem neuen Verfahren behandelt werde, das zur Zeit im Labor für Immunologie des Ospedale Civile erprobt werde und in der Notfallambulanz appliziert werden könne, gebe es noch eine Chance, der Infektion Einhalt zu gebieten. Ansonsten sei der Tod unausweichlich, die Schlagzeile werde sich schnell bewahrheiten und das Opfer sich tatsächlich mit einem Todesbiß gerächt haben.
Er wußte nicht, ob es klappen würde. Er wußte nur, daß Venedig die Stadt der Gerüchte war, wo eine unkritische Bevölkerung las und glaubte, hörte und glaubte.
Er rief in der Krankenhauszentrale an und wollte sich gerade zum Direktor durchstellen lassen, als ihm etwas Besseres einfiel und er statt dessen bat, mit Dottor Carraro in der Notfallambulanz verbunden zu werden.
Endlich hatte er ihn am Apparat, und Carraro blaffte seinen Namen - ein viel zu beschäftigter Mann, als daß man ihn hätte stören dürfen; seine Patienten gerieten in Lebensgefahr, wenn Leute ihn am Telefon mit dummen Fragen von der Arbeit abhielten.
»Ah, Dottore«, begann Brunetti, »wie schön, wieder einmal mit Ihnen zu sprechen.«
»Wer ist denn da?« fragte dieselbe barsche, unbeherrschte Stimme.
»Commissario Brunetti«, sagte er und wartete, daß der Name eine Erinnerung auslöste.
»Ach ja. Guten Tag, Commissario«, sagte der Arzt in deutlich verändertem Ton.
Als von dem Arzt nichts weiter kam, sagte Brunetti: »Ich rufe an, weil ich Ihnen möglicherweise behilflich sein kann, Dottore.« Er wartete, um Carraro Gelegenheit zu einer Frage zu geben. Es kam aber keine, und Brunetti fuhr fort: »Wir sind nämlich jetzt daran, zu entscheiden, ob wir die Ergebnisse unserer bisherigen Ermittlungen an den Untersuchungsrichter weitergeben. Das heißt«, korrigierte er sich mit einem beflissenen kleinen Lachen, »wir müssen eine Empfehlung geben, ob wegen einer Straftat ermittelt werden soll. Wegen unterlassener Hilfeleistung.«
Vom anderen Ende war nur Carraros Atmen zu hören. »Ich bin natürlich überzeugt, daß dazu keinerlei Notwendigkeit besteht«, sagte Brunetti. »Unfälle passieren eben. Der Mann wäre sowieso gestorben. Ich glaube nicht, daß es nötig ist, Ihnen deswegen Unannehmlichkeiten zu machen und polizeilicherseits Zeit mit Ermittlungen in einer Sache zu vertun, in der wir sowieso nichts finden werden.«
Immer noch Schweigen. »Sind Sie noch da, Dottore?« fragte Brunetti freundlich.
»Ja, ich bin noch da«, antwortete Carraro mit seiner neuen, sanfteren Stimme.
»Gut. Ich wußte doch, daß Sie sich über meine Mitteilung freuen würden, nicht wahr?«
»Ja, o ja.«
»Da ich Sie gerade am Apparat habe«, sagte Brunetti, wobei er aber deutlich zu machen verstand, daß ihm das nicht soeben erst eingefallen war, »dürfte ich Sie wohl um einen Gefallen bitten?«
»Aber selbstverständlich, Commissario.«
»Es könnte sein, daß an einem der nächsten Tage ein Mann mit einer Bißwunde am Arm oder an der Hand zu Ihnen in die Notfallambulanz kommt. Er wird wahrscheinlich behaupten, ein Hund habe ihn gebissen, oder möglicherweise sagt er auch, seine Freundin habe ihm das angetan.«
Carraro hüllte sich in Schweigen.
»Hören Sie mir zu, Dottore?« fragte Brunetti, plötzlich sehr viel lauter.
»Ja.«
»Gut. Sowie dieser Mann bei Ihnen aufkreuzt, möchte ich, daß Sie unverzüglich die Questura anrufen, Dottore. Unverzüglich«, wiederholte er noch einmal sehr deutlich, dann nannte er Carraro die Nummer. »Sollten Sie selbst nicht da sein, erwarte ich, daß Sie Ihrer Vertretung genau dieselbe Anweisung hinterlassen.«
»Und was sollen wir mit diesem Menschen machen, bis Sie hier sind?« fragte Carraro, schon wieder mehr in seinem alten Ton.
»Sie müssen ihn einfach dabehalten, Dottore. Lügen Sie ihm etwas vor, erfinden Sie eine Therapie, die so lange dauert, bis wir da sind. Auf keinen Fall dürfen Sie zulassen, daß er das Krankenhaus verläßt.«
»Aber wenn wir ihn nicht daran hindern können?« verlangte Carraro zu wissen.
Brunetti zweifelte eigentlich kaum daran, daß Carraro ihm gehorchen würde, dennoch hielt er es für besser, ihn anzulügen. »Es steht noch immer in unserer Macht, die Krankenhausakten zu prüfen, Dottore, und unsere Untersuchung der Begleitumstände um Signor Rossis Tod wird erst eingestellt, wenn ich
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