Brunetti 10 - Das Gesetz der Lagune
kein Zeichen gegeben, daß er mir etwas zu sagen hätte. Ich glaube, es hat wenig Sinn, ihn noch länger hier draußen zu lassen.«
Das fand nicht nur sie. Brunetti hatte wegen Pucetti schon drei Anfragen von Tenente Scarpa bekommen, Pattas Adjutant, dem aufgefallen war, daß der Name des jungen Beamten auf dem Dienstplan fehlte. Mit der Leichtigkeit langer Gewohnheit hatte Brunetti ihm vorgelogen, er habe Pucetti abgestellt, um am Flughafen wegen Drogensendungen zu ermitteln. Für diese Lüge gab es keinen weiteren Grund als sein instinktives Mißtrauen gegenüber dem Tenente und seinen dringenden Wunsch, daß niemand, wirklich niemand etwas von Pucettis oder Signorina Elettras Anwesenheit auf Pellestrina erfahren möge.
»Das gleiche gilt für Sie, Signorina«, sagte er so unbeschwert und humorvoll, wie er nur konnte. »Wann kommen Sie zurück?«
»Ich sagte Ihnen schon, Commissario, daß ich noch ein bißchen bleiben möchte.«
Zwischen den Schreien der Möwen ertönte eine Männerstimme: »Elettra!« Er hörte sie kurz nach Luft schnappen, dann sagte sie ins Telefon: »Ti chiameò. Ciao, Silvia«, und fort war sie und ließ Brunetti stirnrunzelnd darüber nachgrübeln, daß sie ihn, um ihn endlich mit dem vertrauten »du« anreden zu können, »Silvia« nennen mußte.
Gar nicht schwer fiel es Signorina Elettra hingegen, Carlo mit tu anzureden. Vielmehr gab es Momente, in denen sie dachte, die grammatikalische Intimität werde der Nähe und Vertrautheit, die sie bei ihm empfand, nicht ganz gerecht. Nicht nur war ihr schon bei ihrer ersten Begegnung etwas an ihm durch und durch vertraut vorgekommen, nein, dieses Gefühl hatte sogar noch zugenommen, je mehr sie ihm zuhörte und je besser sie ihn kennenlernte. Beide liebten Mortadella, und beide hatten, so unwahrscheinlich es klingen mochte, Asterix und Popeye, Kaffee ohne Zucker und Bambi geliebt; beide hatten zugegeben, daß sie geweint hatten, als sie von Moana Pozzis Tod erfuhren, und dabei hatten sie sich dann auch noch gegenseitig gestanden, daß sie noch nie so stolz gewesen waren, Italiener zu sein, wie bei dieser spontanen Sympathiewelle für den Tod eines Porno-Stars.
Sie hatten in dieser Woche stundenlang miteinander geredet, und es hatte Elettra geschmerzt, angesichts seiner Offenheit die Lüge aufrechterhalten zu müssen, daß sie bei einer Bank arbeite. Er hatte seine kurze Lebensgeschichte vor ihr ausgebreitet und ihr berichtet, daß er in Mailand Wirtschaftswissenschaften studiert, das Studium aber vor zwei Jahren, als sein Vater starb, abgebrochen hatte und nach Hause zurückgekehrt war. Es bedurfte für beide keiner Erwähnung, daß es für einen jungen Mann, dem zum Abschluß seines Studiums noch zwei Prüfungen fehlten, keine passende Stelle gab. Sie bewunderte die Ehrlichkeit, mit der er ihr erklärte, daß ihm keine andere Möglichkeit blieb, als Fischer zu werden, und mit Freude vernahm sie, mit welchem Stolz er von seiner Dankbarkeit gegenüber dem Onkel sprach, der ihn beschäftigte.
Die Arbeit auf dem Boot war so anstrengend, daß er schon zweimal in ihrer Gegenwart eingenickt war, einmal, als sie in ihrer Höhle saßen, das andere Mal, als er mit ihr in der Bar war. Sie hatte sich beide Male nicht daran gestört, gab es ihr doch Gelegenheit, die kleine Delle unmittelbar vor seinem Ohr zu betrachten und sein Gesicht zu beobachten, das sich im Schlaf entspannte und jünger wurde. Sie hielt ihm oft vor, er sei zu dünn, und er antwortete, das komme von der schweren Arbeit. Obwohl er aß wie ein Wolf - das konnte sie bei jeder gemeinsamen Mahlzeit mit eigenen Augen sehen -, entdeckte sie an seinem Körper keine Spur von Fett. Wenn er sich bewegte, sah es aus, als bestehe er nur aus Sehnen und Muskeln; der Anblick seines bronzefarbenen Unterarms hatte sie einmal fast zu Tränen gerührt, weil sie ihn so schön fand.
Wenn sie einmal zum Nachdenken kam, mußte sie sich vorhalten, daß sie auf Pellestrina war, um zu hören, was die Leute zum Thema Mord zu sagen hatten, nicht der Anziehungskraft eines jungen Mannes zu erliegen, mochte er noch so schön sein. Sie war hier, weil sie hoffte, irgend etwas aufzuschnappen, was der Polizei weiterhelfen würde, und nicht, um sich von einem Mann umgarnen zu lassen, der, und sei es nur aufgrund seines Berufs, durchaus zu denen gehören konnte, über die sie Informationen sammeln sollte.
Aber das alles war wie weggepustet, als Carlos Arm seinen schon vertrauten Platz auf ihrer Schulter fand, seine
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