Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
Brunetti es unmöglich als Kränkung auffassen konnte.
Brunetti hängte einen Zettel an seine Tür mit dem Hinweis, daß er zu einer auswärtigen Vernehmung unterwegs und nach dem Mittagessen zurück sei. Der Tag war düster und kalt geworden, weshalb er sich entschloß, mit dem Vaporetto zu fahren. In der Linie Eins von San Zaccaria drängte sich eine vielköpfige Touristengruppe mit Bergen von Gepäck, vermutlich auf dem Weg zum Bahnhof oder zur Piazzale Roma und von dort zum Flughafen. Brunetti, der in die Kabine durchgehen wollte, fand den Weg versperrt von einem ausladenden Rucksack auf den Schultern einer noch ausladenderen Frau. Er hatte den Eindruck, als hätten sich die Körpermaße der amerikanischen Touristen in den letzten paar Jahren verdoppelt. Stattlich waren sie schon immer gewesen, aber eher nach Art der Skandinavier: hochgewachsen und muskulös. Doch neuerdings gingen sie obendrein stark in die Breite, ja mutierten zu wabbeligen Wurstpaketen, bei deren Anblick er das Gefühl hatte, sie müßten sich glibberig anfühlen.
Obwohl er wußte, daß der menschliche Organismus sich nur unvorstellbar langsam ändert, wurde er den Verdacht nicht los, daß sich, zumindest was den Flüssigkeitsbedarf anging, bei der Spezies Tourist in den letzten Jahren ein eklatanter Wandel vollzogen hatte: Ohne ständige Zufuhr von Wasser oder kohlensäurehaltigen Getränken schien sie heute nicht mehr lebensfähig. Warum sonst umklammerten alle so inbrünstig ihre Maxiplastikflaschen?
Als er endlich einen Platz ergattert hatte, wurde Brunetti rückfällig, schlug seinen Gazzettino auf und wandte sich den vermischten Nachrichten zu, deren vielfältige Freuden er bis zur Haltestelle Ca' Rezzonico genoß.
Am Ende der langen Gasse bog er vor der Kirche rechts ab und ging dann eine noch schmalere calle hinunter, bis er vor dem mächtigen portone des Palazzo Palier stand. Er klingelte und trat nach rechts, um sich über die Sprechanlage zu melden, aber Luciana, die älteste der Bediensteten im Palazzo, die im Laufe der Zeit und dank ihrer treuen Anhänglichkeit fast zu einem Mitglied der Familie geworden war, öffnete ihm unverzüglich.
»Ah, Dottor Guido«, sagte sie, legte ihm lächelnd die Hand auf den Arm und zog ihn ins Haus. In ihrer spontanen Geste lag die Freude, ihn zu sehen, Besorgnis um sein Wohl und fast so etwas wie Liebe. »Paola? Die Kinder?«
Brunetti erinnerte sich, daß sie erst vor ein paar Jahren, als beide Kinder die zierliche Frau schon um Haupteslänge überragten, aufgehört hatte, sie als »die Babies« zu bezeichnen.
»Alle wohlauf, Luciana. Und wir freuen uns schon alle auf die neue Honigernte.«
Lucianas Sohn hatte bei Bozen einen Bauernhof mit Milchviehhaltung, und jedes Jahr zu Weihnachten schenkte sie der Familie vier Kilotöpfe mit den verschiedenen Honigsorten, die er erzeugte.
»Ist der Vorrat schon alle?« fragte sie besorgt. »Möchten Sie Nachschub?«
Er stellte sich vor, wie sie, falls er bejahte, am nächsten Morgen den ersten Zug nach Bozen nehmen würde. »Nein, Luciana, den Akazienhonig haben wir noch gar nicht aufgemacht. Und vom Kastanienhonig ist auch noch die Hälfte übrig, damit sollten wir bis Weihnachten auskommen. Solange wir ihn vor Chiara versteckt halten.«
Sie lächelte, längst vertraut mit Chiaras unersättlichem Appetit. Trotzdem hatte seine Antwort sie noch nicht überzeugt. »Wenn er Ihnen doch ausgeht, sagen Sie's mir, Giovanni kann ohne weiteres welchen runterschicken. Das ist kein Problem.«
Dann tätschelte sie ihm wieder den Arm und sagte: »II Signor Conte ist in seinem Arbeitszimmer.« Brunetti nickte, und Luciana wandte sich der Treppe zu, die in den ersten Stock und zur Küche führte, über die sie schon seit unvordenklichen Zeiten herrschte.
Die Tür zum Arbeitszimmer des Conte stand offen, also klopfte Brunetti nur der Form halber an den Pfosten und trat ein. Sein Schwiegervater blickte auf und begrüßte ihn mit einem so herzlichen Lächeln, daß Brunetti sich schon fragte, ob der Conte womöglich im Tausch gegen die Information, die er ihm geben konnte, seinerseits irgendeine Gefälligkeit erwartete.
Brunetti hatte keine Ahnung, wie alt der Conte war, und mit Schätzungen kam man bei ihm nicht weit. Sein schlohweißes Haupt wirkte im Zusammenspiel mit dem sonnengebräunten Gesicht so jugendlich, daß die Haarfarbe alle Rückschlüsse auf das Alter zunichte machte. Einmal hatte der Commissario Paola nach dem Alter ihres Vaters gefragt, aber sie
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