Brunetti 11 - Die dunkle Stunde der Serenissima
zu Hause ist?«
»Ich glaube, sie muß hier in der Stadt wohnen.«
»Wieso, Lucia?«
»Weil Claudia an den Tagen, wenn sie etwas von ihr mitbrachte, nie lange fortblieb. Ich meine, nicht lange genug für eine Fahrt aufs Festland.« Und nach einigem Überlegen setzte sie hinzu: »Sie kann nicht mal am Lido wohnen. Ich meine, von der Entfernung her schon, denn man braucht ja nicht lange bis dorthin und zurück, aber Claudia hat mal gesagt - ich weiß nicht mehr, worüber wir gesprochen haben -, daß sie seit Jahren nicht mehr am Lido gewesen sei.«
Brunetti wollte schon die nächste Frage stellen, als Lucia sich plötzlich hilfesuchend an den Arzt wandte. »Dottore, muß ich noch mehr Fragen beantworten?«
Ohne sich mit Brunetti zu verständigen, befand der junge Arzt: »Nur, wenn Sie selbst es wollen, Signorina.«
»Dann möchte ich jetzt aufhören. Das war ohnehin alles, was ich zu sagen habe«, erklärte Lucia an den Doktor gewandt und Brunetti völlig ignorierend.
Brunetti, der sich wohl oder übel damit abfinden mußte, daß jede weitere Befragung in Mailand oder telefonisch stattfinden würde, erhob sich. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfe.« Und an die Adresse des Arztes: »Auch Ihnen, Dottore.«
Dann sagte er abschließend an beide gerichtet: »Signora Galante hat Tee gekocht und bietet Ihnen sicher gern eine Tasse an.« Damit trat er zur Tür, drehte sich kurz um, als wolle er noch etwas fragen, besann sich jedoch und ging wortlos hinaus.
11
A uf der Treppe stieß Vianello zu ihm. »Sollen wir uns noch mal in der Wohnung umschauen, Commissario?« fragte er.
Brunetti nickte wortlos, machte kehrt und stieg wieder die Treppe hinauf. Der uniformierte Beamte stand noch an der Tür und meldete, als sie oben anlangten: »Sie haben die Leiche abtransportiert, Commissario.«
»Dann können Sie jetzt in die Questura zurück«, sagte Brunetti und trat ein. Der Teppich lag unverändert in der Mitte des Zimmers, aber die blutgetränkte Kante war geglättet, als ob jemand die Fransen gekämmt hätte. Brunetti zog die Handschuhe aus der Jackentasche und streifte sie über. Die grauen Puderflöckchen auf den Möbelflächen legten stummes Zeugnis davon ab, daß die Kriminaltechnik inzwischen dagewesen war und die Fingerabdrücke in der Wohnung gesichert hatte.
Wie oft Brunetti auch schon die Habseligkeiten von Opfern durchsucht hatte, die keinen Anspruch mehr auf ihren Besitz erhoben - er konnte sich des Unbehagens, das ihn dabei jedesmal überkam, nicht erwehren. Er stöberte und stocherte, pulte, zupfte und spähte die Geheimnisse aus, die der von einem jähen Tod Dahingeraffte zurückgelassen hatte, und sosehr er sich auch um Distanz bemühte: Nie gelang es ihm, die Erregung zu unterdrücken, die ihn befiel, sobald er fand, wonach er gesucht hatte. Empfindet so ein Voyeur?, fragte er sich.
Vianello verschwand in Richtung der Schlafzimmer, und Brunetti, der im Wohnzimmer blieb, mußte sich überwinden, um der Stelle, an der sie gelegen hatte, den Rücken zu kehren. Genau da, wo es hingehörte, nämlich auf dem örtlichen Telefonbuch, links vom Apparat, fand er ein Büchlein mit privaten Nummern. Er ging es durch. Erst als er zum Buchstaben »J« kam, glaubte er bei dem Namen »Jacobs« fündig geworden zu sein. Er blätterte die restlichen Seiten durch, aber abgesehen von Einträgen wie »Klempner« und »Computerhilfe« war »Jacobs« das einzige Wort, das nicht auf einen Vokal endete. Außerdem begann die Nummer mit 52 und hatte im Gegensatz zu einigen anderen keine Vorwahl. Einen Moment lang erwog er, dort anzurufen, aber wenn Claudia dieser Frau nahegestanden hatte, durfte sie von ihrem Tod nicht übers Telefon erfahren.
Doch wie sollte er ihre Adresse in Erfahrung bringen? Brunetti schlug das amtliche Telefonbuch auf und ging die wenigen Einträge unter »J« durch. Und da war sie: »Jacobs, H.«, mit einer Anschrift in Santa Croce. Da ihm sein Instinkt sagte, daß er das wichtigste Indiz bereits gefunden hatte, interessierte ihn die weitere Durchsuchung nicht sonderlich.
Vianello kam aus Lucias Schlafzimmer zurück. »Signorina Lucia liest anscheinend nichts außer historischen Abhandlungen über das Byzantinische Reich und Liebesromanzen.«
Brunetti, der dem Inspektor von Claudias Besuch in seinem Büro und ihrem merkwürdigen Ansinnen berichtet hatte, erwiderte bloß: »Ich glaube, ich habe die Großmutter gefunden.«
Vianello langte wie selbstverständlich in die Tasche und zückte sein
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