Brunetti 12 - Verschwiegene Kanäle
erworben hatte.
»Es hat ganz den Anschein«, sagte er und ließ es dabei bewenden.
Da sie wußte, wie schwer es ihm fallen würde, von selber davon zu sprechen, fragte Paola: »Und ihr Sohn?«
»Sie ist überzeugt, daß er sich nicht umgebracht hat.«
»Sie ist seine Mutter«, entgegnete Paola. »Also glaube ihr.«
»So einfach ist das?« Jetzt war es an Brunetti, den Skeptiker herauszukehren.
»Ja. Wenn jemand weiß, wozu er fähig war, dann sie.«
Brunetti, der nicht widersprechen wollte, goß sich noch ein Glas Wasser ein und trat an das Fenster, das nach Norden hinausging. Hinter ihm fragte Paola: »Sag, wie ist sie denn eigentlich?«
Brunetti dachte an Federicas Stimme, ihre Augen, die mit mäßigem Interesse auf ihm geruht hatten, an das eingefallene Gesicht, die pergamentene Haut. »Elend sieht sie aus«, sagte er endlich. »Als wäre sie kein ganzer Mensch mehr.«
Eine so ungereimte Beschreibung hätte Paola ihm sonst nicht durchgehen lassen, aber diesmal schwieg sie. »Ich hatte sie zuvor nur auf einem Foto gesehen, zusammen mit Mann und Sohn. Die Aufnahme ist schon ein paar Jahre alt, aber ich habe sie dennoch wiedererkannt; ich meine, es ist dieselbe Person, nur daß sie weniger geworden ist.«
»Das leuchtet mir ein«, sagte Paola, »sie hat ja auch einen Teil von sich verloren.«
Ohne zu wissen, wieso Paola eine Antwort darauf haben sollte, fragte er: »Wird das je wieder vergehen?« Und bereute die Frage, kaum daß er sie gestellt hatte, weil er Paola damit nötigte, über den Tod der eigenen Kinder nachzudenken: Um ihm antworten zu können, mußte sie sich an die Stelle der anderen Frau versetzen. Er hatte sich nie zu fragen getraut, ob Paola sich mit solchen Gedanken trug und, wenn ja, wie oft. Er selbst kritisierte es zwar, wenn Eltern ihre Kinder allzusehr behüteten, das heißt, sich schon um sie ängstigten, ohne daß irgendeine reale Gefahr bestand; trotzdem verging kein Tag, an dem er sich nicht um die seinen sorgte. Und die Einsicht, daß dies töricht war, zumal in einer Stadt ohne Autoverkehr, minderte weder seine Ängste, noch bewahrte sie ihn davor, sich ständig Situationen auszumalen, die seinen Kindern gefährlich werden konnten.
Paolas Stimme riß ihn aus seinen Gedanken. »Nein, ich glaube, den Tod eines Kindes kann man nie verwinden.«
»Und glaubst du, daß es für die Mutter schlimmer ist als für den Vater?«
Paola schüttelte den Kopf. »Nein, das ist Unsinn.«
Glücklicherweise ersparte sie ihm Beispiele dafür, daß der Schmerz eines Vaters genauso tief sein konnte wie der einer Mutter.
Er kehrte den Bergen am Horizont den Rücken, trat vom Fenster weg, und als ihre Blicke sich trafen, fragte Paola: »Was ist deiner Meinung nach passiert?«
Brunetti, den der Fall Moro vor immer neue Rätsel stellte, schüttelte resigniert den Kopf. »Alles, was ich habe, sind vier scheinbar unzusammenhängende Ereignisse: Moro legt sein Gutachten vor, das nicht viel bewirkt, außer daß er dafür strafversetzt wird; man wählt ihn ins Parlament, aber er scheidet aus, bevor die Legislaturperiode zu Ende ist; kurz vor seinem Rücktritt wird seine Frau angeschossen; zwei Jahre später findet man seinen Sohn erhängt im Waschraum seiner Schule.«
»Hat die Schule eine besondere Bedeutung?« fragte sie.
»Wie meinst du das? Weil es eine Militärakademie ist?«
»Das ist das einzig Außergewöhnliche daran, nicht wahr?« meinte Paola. »Das und der Umstand, daß die Zöglinge im Winter wie Pinguine durch die Stadt spazieren und immer so aussehen, als hätten sie einen üblen Geruch in der Nase.« Das war Paolas Lieblingsbeschreibung für einen Snob. Und mit der Spezies hatte sie als Tochter eines Conte und einer Contessa, aufgewachsen zwischen Geburts- und Geldadel samt jenen Schranzen, die sich zu beiden hingezogen fühlen, reichlich Erfahrung.
»Soviel ich weiß, hat San Martino einen guten Ruf«, sagte er.
Paola, die offenbar nicht der Meinung war, stieß nur ein geringschätziges »Pah!« in die Luft.
»Ich weiß nicht, ob das als Gegenargument ausreicht.«
Brunetti schmunzelte. »So unmißverständlich es auch formuliert ist.«
Paola baute sich vor ihm auf und stemmte die Hände in die Hüften wie eine Schauspielerin, die für die Rolle der zornigen Alten vorspricht. »Es war vielleicht nicht ganz schlüssig«, sagte sie, »dafür habe ich handfeste Belege.«
»Einfach hinreißend, wie Sie sich ereifern, Signora Paola«, flötete Brunetti mit verstellter Stimme. Worauf
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