Brunetti 13 - Beweise, daß es böse ist
Signora höchst lebendig am Fenster stand, als ich Flori auf der Straße begegnete. Ferner verbürge ich mich dafür, daß Flori, als ich sie am Bahnhof verließ, ruhig und gefaßt wirkte und ich keinerlei Anzeichen von Mordgelüsten an ihr entdecken konnte.« Und in Anspielung auf seinen höhnischen Kommentar ergänzte sie: »Was auch immer das für Anzeichen sein mögen.« Es drängte sie fortzufahren, diesem Rohling klarzumachen, daß Flori, die arme tote Flori, dieses Verbrechen nie und nimmer begangen haben konnte. Ihr Herz hämmerte, zwischen ihren Brüsten sammelte sich der Schweiß: Sie brannte förmlich darauf, ihn bloßzustellen, ihm zu beweisen, wie gründlich er sich verrannt hatte. Aber der anerzogene Zivilgehorsam war stärker, und sie sagte nichts mehr.
Scarpa erhob sich ungerührt und verließ abermals das Zimmer. Seine Akte nahm er wieder mit. Signora Gismondi richtete sich auf und versuchte ihre verspannten Glieder zu lockern. Sie hatte, sagte sie sich, ihren Standpunkt dargelegt, und damit basta. Bemüht, tief und ruhig zu atmen, lehnte sie sich im Stuhl zurück und schloß die Augen.
Nach langen Minuten hörte sie ein Geräusch hinter sich, öffnete die Augen und schaute zur Tür. Ein Mann so groß wie der Tenente, aber in Zivil, stand auf der Schwelle, in der Hand offenbar Scarpas Akte. Er nickte, als ihre Blicke sich trafen, und lächelte verhalten. »Wenn Sie erlauben, Signora, führe ich Sie hinauf in mein Büro. Es hat zwei Fenster, dürfte also ein wenig kühler sein.« Einladend trat er einen Schritt beiseite.
Sie stand auf und ging zur Tür. »Und der Tenente?« fragte sie.
»Der wird uns da nicht behelligen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich bin Commissario Guido Brunetti, Signora, und ich interessiere mich sehr für das, was Sie uns zu erzählen haben.«
Sie sah ihm prüfend ins Gesicht, kam zu dem Schluß, daß sein Interesse aufrichtig sei, und ergriff die dargebotene Hand. Nach dieser formellen Begrüßung ließ er ihr mit einer höflichen Geste den Vortritt auf dem Weg zur Treppe, einem auffallend eleganten Zeugnis ehemaliger Pracht in einem Gebäude, das im Namen der Zweckmäßigkeit schon so manche architektonische Schmach erlitten hatte.
»Sie kommen mir bekannt vor«, sagte Signora Gismondi.
»Ja«, antwortete er, »Sie mir auch. Arbeiten Sie vielleicht irgendwo am Rialto?«
Sie lächelte entspannt. »Nein, ich arbeite zu Hause, drüben beim Campo della Misericordia, aber ich komme mindestens dreimal die Woche auf den Markt. Vermutlich sind wir uns da begegnet.«
»Bei Piero?« fragte Brunetti in Anspielung auf den briefmarkengroßen Laden, in dem er und Paola ihren parmigiano kauften.
»Natürlich! Und ich glaube, ich habe Sie auch im Do Mori gesehen«, setzte sie hinzu.
»Dort allerdings immer seltener.«
»Seit Roberto und Franco das Lokal verkauft haben?«
»Ja«, bestätigte er. »Ich weiß, die neuen Besitzer sind ausgesprochen nett, aber irgendwie ist es doch nicht mehr dasselbe.«
Es muß unerträglich sein, in dieser Stadt einen florierenden Betrieb zu übernehmen, dachte sie. Ganz gleich, wie gut der Nachfolger ist und wie viele Verbesserungen er einführt: Die Leute werden noch zehn, zwanzig Jahre nach dem Wechsel darüber jammern, um wieviel besser der Laden war, als Franco oder Roberto oder selbst ein Pinco Pallino noch die Geschäfte führte. Die beiden neuen Eigentümer vom Do Mori - ihre Namen kannte sie bis heute nicht - waren ebenso zuvorkommend wie ihre Vorgänger, verkauften den gleichen Wein und sogar bessere Sandwiches, doch wie gut ihr Angebot auch sein mochte, sie waren dazu verurteilt, sich bis zum Ende ihres Erwerbslebens an einem mit den Jahren verblaßten, zugleich aber auch verklärten Niveau messen zu lassen, das sie nie und nimmer erreichen konnten, zumindest so lange nicht, bis die alte Kundschaft endgültig weggestorben oder verzogen war. Erst dann konnten sie zum neuen Maßstab aufrücken, an dem wiederum ihre Nachfolger scheitern würden.
Oben an der Treppe wandte Brunetti sich nach links und führte Signora Gismondi den Flur entlang bis zu einer Tür, an deren Schwelle er ihr wiederum den Vortritt ließ. Das erste, was ihr drinnen auffiel, waren die hohen Fenster mit Blick auf die Kirche von San Lorenzo und der große Schrank an einer Wand. Ansonsten bestand auch hier die Einrichtung aus einem Schreibtisch mit einem Sessel dahinter und zwei Stühlen davor.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten, Signora? Einen
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