Brunetti 14 - Blutige Steine
können.« Nach diesem leidenschaftlichen Plädoyer holte sie tief Luft und fragte dann ganz sachlich: »Und? Hat er Ihnen den Fall übertragen?«
»Nein, nicht direkt. Aber er hat auch nicht gesagt, daß er ihn jemand anderem geben will, also nehme ich an, daß ich weitermachen soll.« Während er ihr das vorschwindelte, versuchte Brunetti im Kopf die Spur von Pattas Warnung zu ihrer Quelle zurückzuverfolgen: Wenn man Patta unter Druck gesetzt hatte, damit er ihn, Brunetti, von dem Fall abzog, dann waren alle, die trotzdem weiterermittelten, in Gefahr.
Wie hatte Patta es formuliert? »Wir müssen uns da raushalten«? Typisch für ihn, es so darzustellen, als sei die Entscheidung einstimmig beschlossen und das Resultat reiflicher Überlegung. »Wir müssen«, hatte er gesagt, als sei ein für allemal nicht mehr daran zu rütteln, daß man die Ermordung des Afrikaners auf sich beruhen lassen oder sie dem ohnehin schon überfüllten Reich des Vergessens anheimgeben würde.
Ein Patta, den es so freilich nie gegeben hatte, hätte vielleicht gesagt: »Man setzt mich unter Druck, damit ich Sie von dem Fall abziehe. Und vor lauter Angst, daß ich meinen Posten verlieren oder sonstwie zu Schaden kommen könnte, werde ich alles tun, um das Rechtssystem zu korrumpieren und Sie an der Ausübung Ihrer Pflichten zu hindern, nur damit ich meinen Kopf aus der Schlinge ziehen kann.«
Die Stimme dieses Phantom-Pattas klang so echt, daß sie die von Signorina Elettra um ein Haar übertönt hätte. Brunetti blinzelte ein paarmal und klinkte sich gerade noch rechtzeitig wieder ein, um sie sagen zu hören: »... nach wie vor Ihnen melden?«
»Ja, natürlich«, antwortete er so nachdrücklich, als hätte er auch den Anfang der Frage mitbekommen. »Solange ich keine andere Weisung bekomme, werde ich die Ermittlungen weiterführen wie bisher.«
»Und wenn so eine Weisung kommt?«
»Dann werde ich sehen, wem er die Leitung des Falls überträgt, und dem Betreffenden entweder helfen oder auf eigene Faust weitermachen.« Es erübrigte sich, denjenigen beim Namen zu nennen, dessen Ernennung den zweiten Weg nach sich ziehen würde: Selbst wenn sich in ihrer Institution manch einer im Dienste der Gerechtigkeit kein Bein ausriß, setzte sich doch niemand so geringschätzig über sie hinweg wie Tenente Scarpa, ein unrühmliches Beispiel. Von den Commissari waren zwar einige überfordert, wenn ein komplexer Fall sie vor besondere Schwierigkeiten stellte, aber unter der Führung eines kompetenten Richters versuchten sie zumindest, die Schuldigen dingfest zu machen, wobei ihnen höchstens ihre Unerfahrenheit und mangelnde Phantasie im Weg standen. Scarpa dagegen kannte keine andere Motivation als das eigene Karrierestreben, und sein Vorgesetzter - oder übergeordnete Autoritäten, die Brunetti sich gar nicht zu benennen traute - hätte nur etwas vom Einstellen der Ermittlungen zu flüstern brauchen, und schon wäre der Fall beerdigt gewesen.
Scarpa konnte er zum Glück nicht übertragen werden, denn der war, ungeachtet aller Anstrengungen von seiten Pattas, ihn zu befördern, nach wie vor nur Tenente. Als verantwortlicher Leiter einer Morduntersuchung kam aber nur ein Commissario in Frage; trotzdem konnte, sofern er sich das in den Kopf setzte, nichts und niemand Patta daran hindern, auch Scarpa ins Ermittlungsteam zu berufen.
»Wenn wir ihn doch nur loswerden könnten«, stöhnte Brunetti, immer noch ohne Scarpas Namen in den Mund zu nehmen, und wunderte sich, daß er daherredete wie ein englischer Monarch, der ein Problem mit seinem Hofstaat zu lösen hat.
Signorina Elettras Lächeln blitzte zuerst in ihren Augen auf und erhellte alsbald ihr ganzes Gesicht. »Führen Sie mich nicht in Versuchung, Commissario«, sagte sie endlich.
»Höchstens dahin gehend, ihn zu versetzen, Signorina«, entgegnete Brunetti mit übertriebenem Nachdruck. Er war sich nie ganz sicher, wozu seine Anregungen sie verleiten mochten.
Ihr Blick schweifte zum Fenster hinaus und ruhte versonnen auf der Fassade von San Lorenzo. »Ach«, hauchte sie mit einem scheinbar endlosen Seufzer und verstummte wieder. Sie neigte den Kopf zur Seite, wie um ihren Blickwinkel auf etwas zu fokussieren, das nur für sie sichtbar war, und dann lächelte sie aufs neue.
»Das Interpol-Seminar zum Thema technologische Überwachungsstrategien«, sagte sie.
»Das in Lyon?« fragte Brunetti erstaunt. »Ja.«
»Aber ist das nicht nur für ausgewählte Beamte, die für die Versetzung zur
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