Brunetti 14 - Blutige Steine
Interpol vorgesehen sind?«
»Doch«, antwortete sie. »Aber er bewirbt sich seit Jahren bei Interpol.«
»Bloß immer erfolglos, soviel ich weiß.«
Mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln gab Signorina Elettra zurück: »Und daran wird sich auch nichts ändern, solange Georges dort das Personalbüro leitet.«
»Georges?« echote Brunetti, als hätte sich eben herausgestellt, daß sie beide denselben Steuerberater hatten.
»Ich war noch sehr jung damals«, war alles, was sie an Erklärung preisgab.
Als verstünde er genau, was das bedeuten sollte, sagte Brunetti bloß: »Ja, natürlich.« Und dann, um sie wieder zum Thema zurückzulotsen, überwand er sich und sprach den Namen doch noch aus: »Aber was ist nun mit Scarpa?«
Worauf Elettra bereitwillig in die Gegenwart zurückfand und ihm die Zukunft erklärte. »Er könnte nach Lyon eingeladen werden und an dem Seminar teilnehmen. Aber wenn das zu Ende ist, könnte jemand feststellen, daß die Einladung eigentlich einem anderen Tenente Scarpa zugedacht war.«
»Welchem anderen Tenente Scarpa?« fragte Brunetti verdutzt.
»Keine Ahnung«, erwiderte sie ungeduldig. »Aber es gibt doch bestimmt mehrere mit dem Namen und Dienstgrad bei unserer Polizei.«
»Und wenn nicht?«
»Dann findet sich gewiß ein Tenente Scarpa in der Armee oder bei den Carabinieri, bei der Finanza oder der Polizia di Frontiera.«
»Vergessen Sie nicht die Bahnpolizei«, warf Brunetti ein.
»Danke, Commissario.«
»Wie lange dauert denn dieses Seminar?«
»Drei Wochen, glaube ich.«
»Und Interpol übernimmt die Kosten?«
»Selbstverständlich.«
»Sind Sie sicher, daß Georges da mitmacht?«
Wäre sie ein Freigeist gewesen, der die Macht des Glaubens erklären sollte, die Signorina hätte nicht verwunderter dreinschauen können. Und zu einer Antwort ließ sie sich erst gar nicht herab. Als auch Brunetti schwieg, wandte sie sich zum Gehen, hielt aber an der Tür noch einmal kurz inne. »J'appellerai Georges«, flötete sie und verschwand.
Die Frage, wer hinter Pattas Warnung stecken mochte, verfolgte Brunetti bis zu einem Arbeitsessen mit Kollegen aus dem Veneto, und sie lauerte stumm im Hintergrund, während er sich freundschaftlich mit den Partnern vom Festland unterhielt und die üblichen Tischreden über sich ergehen ließ, in denen wortreich betont wurde, wie wichtig es sei, die gesellschaftliche Ordnung vor gewissen Mächten zu schützen, die sie von allen Seiten bedrohten. Geistesabwesend blätterte Brunetti in seiner Speisekarte und zog einen Stift aus der Tasche.
Während die Minuten - und dann die Viertelstunden - verstrichen, erstellte er eine Liste der Werte, die am häufigsten beschworen wurden, und eine mit Vorschlägen zur wirksameren Verbrechensbekämpfung. Als die zweite Stunde anbrach, hatte er unter Werte »Heim«, »Familie« und »Sicherheit« notiert; in der zweiten Rubrik standen dagegen nur Floskeln wie »entschlossenes Handeln« und »rasches Eingreifen«. Warum können wir nie konkret werden und Tacheles reden? dachte er. Wieso ergehen wir uns statt dessen immerfort in ebenso hochtrabenden wie nichtssagenden Allgemeinplätzen?
Zurück in seinem Büro, fiel Brunetti ein, daß dies einer der Tage war, an denen Paola nach dem Mittagessen nicht in die Uni zurückmußte, sondern den Nachmittag damit verbringen konnte, zu Hause Referate zu korrigieren, zu lesen oder womöglich auf dem Sofa zu liegen und sich Seifenopern im Fernsehen anzuschauen. Wie schön wäre es doch, einen solchen Beruf zu haben, dachte er. Fünf Stunden die Woche im Hörsaal, sieben Monate pro Jahr - und die übrige Zeit hatte man frei und konnte sich ungehindert seiner Lektüre widmen. Gut, Paola mußte von Rechts wegen noch an verschiedenen Fakultätssitzungen teilnehmen und saß auch in zwei Ausschüssen, aber sie hatte ihm nie begreiflich machen können, womit genau diese Ausschüsse sich eigentlich befaßten, und die Sitzungen schien sie fast immer zu schwänzen.
Vor längerer Zeit hatte er sie einmal gefragt, warum sie überhaupt noch an der Uni weitermache, und sie hatte erwidert, daß die Studenten durch ihren Unterricht immerhin mit einer Dozentin konfrontiert würden, die ihnen mehr böte, als nur vorne auf dem Podium zu stehen und aus dem eigenen Lehrbuch vorzulesen. Und diese treffsichere Beschreibung seiner eigenen Studienjahre erinnerte Brunetti daran, wie lange er die Hoffnung genährt hatte, daß sich die Unterrichtsmethoden, zumindest in den Geisteswissenschaften,
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