Brunetti 14 - Blutige Steine
mit dieser Geste um Hilfe bat oder die ihre anbot. Ihm war beides recht.
16
A m nächsten Morgen erwachte Brunetti bei hellem Sonnenschein. Seit einer Woche hatten die Nebelwolken, statt abzuregnen, nur das Pflaster mit glitschig glänzendem Niederschlag überzogen. Letzte Nacht war der Regen endlich doch noch gekommen - Brunetti erinnerte sich dunkel, daß er ihn im Schlaf hatte gegen die Fensterscheiben prasseln hören -, aber vor der Morgendämmerung war er wieder abgezogen und hatte den Tag der Sonne überlassen.
Brunetti lag im Bett und freute sich über den Lichtstreif, der am Fußende auf die Decke fiel. Er drehte sich auf den Rücken, streckte sich kräftig durch und - ja, tatsächlich, am unteren Bettrand, den die Sonne schon länger beschienen hatte, ertasteten seine Zehen wohlige Wärme.
Als er eine halbe Stunde später wieder wach wurde, schreckte ihn der Gedanke auf, daß es nur noch vier Tage bis Weihnachten waren und er wieder einmal ganz ohne Geschenke dastand. Im ersten Moment hätte er fast Paola die Schuld gegeben, weil sie ihn nicht daran erinnert hatte, aber kaum war er auf diese Ausflucht verfallen, schämte er sich auch schon dafür. Ein paar Minuten später kam seine Frau mit einer großen Tasse Caffè latte herein. Paola trug ein grünes Wollkleid, das er noch nicht kannte. Sie stellte die Tasse neben ihn auf den Nachttisch und setzte sich zu ihm aufs Bett. »Ich wollte nicht gehen, bevor du auf bist.«
»Wo willst du denn hin?«
»Ich treffe mich mit meiner Mutter zum Einkaufen.«
Brunetti führte die Tasse zum Mund, bevor er fragte: »Weihnachtsgeschenke?«
»Ja. Aber für meinen Vater ist mir noch nichts eingefallen.«
Er nahm drei kleine Schlucke, einer belebender als der andere. »Du Glückliche! Ich habe diesmal noch gar nichts geplant.«
»Das ist doch immer so bei dir.« Sie sagte das ganz sanft und liebevoll. »Aber wenn du mich um vier am Campo San Bortolo abholst, können wir gemeinsam ein paar Geschenke besorgen.«
»Heißt das, du kommst zum Mittagessen nicht nach Hause?« Er bemühte sich mannhaft, nicht allzu enttäuscht zu klingen.
»Aber Guido, ich hab dir doch gestern abend gesagt, daß Mutter und ich heute mittag bei Tante Federica eingeladen sind.«
Aha, darum das neue Kleid. Brunetti trank seinen Kaffee und verbot sich die Frage, wie sie den Gedanken an zwei Stunden in Gesellschaft ihrer Tante ertragen könne. Wenn sie bereit war, mit ihm einkaufen zu gehen - was sie noch mehr Überwindung kostete als ihn -, würde er sich jeder Kritik an ihrer Familie enthalten.
»Wir gehen jedes Jahr, das weißt du doch«, sagte Paola. Und als er die Grimasse zog, mit der er immer auf die Erwähnung gewisser Mitglieder ihrer Familie reagierte, schob sie nach: »Vergiß nicht, daß es Tante Federica war, die euch die Beweise für die Betrügereien in der Diözese von Messina geliefert hat.«
Brunetti bedeckte seine Augen mit der Linken und fragte spöttisch: »Mußt du immer mit deiner Familie prahlen?« Als Paola darauf nichts erwiderte, blinzelte er zwischen den gespreizten Fingern zu ihr hoch. Nein, sie lächelte nicht.
Er stellte die Tasse ab und entschloß sich, über seinen Schatten zu springen. »Tut mir leid. Ich hatte vergessen, daß du's mir gesagt hast. Vier Uhr paßt mir gut. Ich will versuchen, bis dahin meine Geschenkliste fertig zu haben.«
Paola beugte sich herunter und küßte ihn auf die Wange. »Ich find's süß, wenn du mich beschwindelst.« Sie wollte sich eben wieder aufrichten, als er sie mit beiden Armen umschlang.
Entzückt über ihr Erstaunen, zog er sie an sich und drückte sie. Paola lachte. Er drückte fester zu. Sie kicherte. Plötzlich ließ er los, und sie sprang auf.
»Wirst du das auch mit Patta machen, wenn er dich das nächste Mal der Lüge bezichtigt?« fragte sie.
Brunetti maß sie von oben bis unten. »Nur wenn er ein Kleid so kurz wie das da anhat.« Damit schlug er die Decken zurück und stieg aus dem Bett.
Seltsamerweise hatte der Sonnenschein auf die Temperaturen offenbar keinen Einfluß: Sobald Brunetti aus dem Haus trat, schien ihm die Luft sogar noch frostiger als am Tag zuvor. Und bis er zum Rialto kam, zwickte ihn die Kälte so empfindlich in Ohren und Nase, daß er es bereute, in leichtsinnigem Optimismus ohne Schal und Handschuhe losgegangen zu sein. Dafür bemerkte er, als sei mit dem Nebel auch ein Schleier vor seinen Augen gewichen, zum erstenmal, daß die Stadt sich fürs bevorstehende Weihnachtsfest herausgeputzt
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