Brunetti 14 - Blutige Steine
womit wir es hier zu tun haben, nennen die Amerikaner ein ›Need-to-Know-Szenario‹.« Patta war sichtlich stolz darauf, daß ihm diese Formulierung eingefallen war und er sie obendrein auch noch auszusprechen vermochte. Wie aus Besorgnis, Brunetti könne ihn womöglich nicht verstanden haben, schob er zur Erklärung nach: »Das heißt, nur unmittelbar mit dem Fall betraute Personen haben Zugang zu den einschlägigen Informationen.«
Brunetti nickte stumm.
Patta machte eine Pause, die sich so lange hinzog, bis es ihm selbst peinlich wurde. Man merkte das daran, wie er sich in seinem Sessel zurücklehnte, geflissentlich die Beine übereinanderschlug - alles nur, um Brunetti nervös zu machen und ihn zum Sprechen zu bringen. Bleischwer lastete das Schweigen im Raum. Endlich hielt Patta es nicht mehr aus und fragte: »Haben Sie mich verstanden?«
»Ich denke schon«, gab Brunetti sachlich zurück und erkundigte sich dann wie beiläufig: »Wäre das alles, Vice-Questore?«
»Ja, ja.«
Worauf Brunetti aufstand und sich empfahl. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf er einen Blick in Signorina Elettras Richtung, verließ jedoch ihr Büro, ohne mit ihr gesprochen zu haben.
Statt dessen machte er sich auf die Suche nach Vianello, den er unten im Dienstzimmer an seinem Schreibtisch vorfand. »Sagen Sie, Lorenzo, haben Sie eine Kopie von der Akte?«
»Meinen Sie die über den Afrikaner?« »Ja.«
Vianello stand auf und trat zu dem ramponierten Aktenschrank zwischen den Fenstern an der gegenüberliegenden Wand. Er zog das oberste Fach heraus, ging alle Ordner der Reihe nach durch und begann dann noch einmal von vorn. Unverrichteter Dinge schob er das Fach wieder zu und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Hier blätterte er in zwei Schnellheftern rechts neben dem Telefon, sah anschließend in jeder einzelnen Schublade nach und blickte endlich kopfschüttelnd zu Brunetti auf.
Ohne daß ein Wort dazu nötig gewesen wäre, begaben sich beide hinauf in Brunettis Büro, wo freilich die Suche nach der Akte ebenso erfolglos verlief wie unten bei Vianello. »Scarpa?« mutmaßte Brunetti.
»Gut möglich. Obwohl das ganz schön dumm von ihm wäre. Schließlich hat Elettra die Akte im Computer und kann jederzeit neue Kopien ausdrucken.«
Im ersten Augenblick leuchtete das auch Brunetti ein, aber dann fragte er sich, ob es wirklich stimmte. Er selber wollte so kurz nach seiner Unterredung mit Patta nicht schon wieder in dessen Vorzimmer aufkreuzen, und übers Haustelefon mochte er Elettra auch nicht nach der gesuchten Akte fragen. Also bat er Vianello: »Gehen Sie doch mal runter und erkundigen sich, ob sie die Akte wirklich noch hat.«
Sobald der Inspektor fort war, zog Brunetti Bilanz.
Wie leicht sich eine oder auch mehrere Akten aus den Schränken und Büros der Questura entwenden ließen, wußte er. Ob es hingegen möglich war - und wenn ja, wie man es anstellte -, die Dateien in Signorina Elettras Computer anzuzapfen, konnte er nicht beurteilen. Instinktiv und aufgrund leidiger Erfahrungen verdächtigte er in erster Linie Tenente Scarpa, doch Pattas Verweis auf das Innenministerium bedeutete, daß sie es jetzt mit sehr viel ernstzunehmenderen Gegnern zu tun hatten. Wenn der Fall wirklich ans Ministerium gegangen war, hätte Venedig endgültig ausgespielt, und Patta wäre aus dem Schneider. Und falls Scarpa die Akten hatte mitgehen lassen, war ihm der Dank seines Vorgesetzten sicher. Blieb die Frage, wer außer diesen beiden vom Boykott der Ermittlungen profitierte - und was damit zu gewinnen war.
Vor einer Woche hatte Brunetti sich mit falschen Papieren ein zweites telefonino auf den Namen Roberto Rossi zugelegt, dessen Nummer er niemandem mitgeteilt hatte, nicht einmal Paola. Jetzt holte er es hervor und wählte die Nummer von Rizzardis Büro. Als der Doktor sich meldete, sagte Brunetti nur: »Ich bin's, Bruno. Carlo.« Er machte eine Pause, um dem Doktor Zeit zu geben, sich zurechtzufinden und die Warnung zu erfassen, die er ihm mit diesem Decknamen signalisierte. »Ich wollte mich nur erkundigen, ob du zufällig den Bericht eingesehen hast, den dein Büro mir geschickt hat.«
»Ah, ja, Carlo!« rief Rizzardi nach kaum merklichem Zögern. »Freut mich, deine Stimme zu hören. Also der Bericht ist mir erst heute morgen zugestellt worden. Danach wollte ich dich gleich anrufen, habe dich aber nicht erreicht. Weißt du, ich habe Fotos von dieser - äh - von der neuen Sweater-Kollektion. Ich bin nicht
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