Brunetti 14 - Blutige Steine
hatte: In allen Schaufenstern hingen Lametta und bunte Glühbirnen.
Brunetti hob den Kopf zu den Lichterketten, die sich hoch über ihm kreuzten. Wie konnte er nur den ganzen Advent über auf dem Heimweg im Dunkeln hier entlanggegangen sein, ohne etwas davon wahrzunehmen? Unversehens fiel ihm wieder Paolas Tante Federica ein. Er wußte, daß sie ihre Nichte seinerzeit beiseite genommen und sie vor der Heirat mit einem Mann »seines Standes« gewarnt hatte, weil sie sich dadurch nicht nur persönlich, sondern vor allem auch gesellschaftlich schaden würde. Paola hatte ihm das erst nach der Geburt ihres zweiten Kindes erzählt, und er war so glückstrunken gewesen beim Anblick der vollkommenen, rosigen Zehen seiner Tochter, daß er bloß lachend wiederholt hatte: »So, so - gesellschaftlich?« Was für ein Unsinn: Eine Falier konnte den Müllmann heiraten, ohne sich vor der Gesellschaft zu kompromittieren.
An diesem Morgen war Brunetti fast dankbar, als er in der Questura anlangte, wenn auch bloß wegen der Heizung, die zumindest in Teilen des Gebäudes funktionierte. In seinem Büro legte er nur rasch den Mantel ab und wollte gleich wieder hinunter zu Signorina Elettra. Zu seinem Pech lief er auf der Treppe ausgerechnet Patta in die Arme. »Guten Morgen, Commissario. Das trifft sich gut, ich hätte nämlich etwas mit Ihnen zu besprechen.«
»Gewiß, Vice-Questore.« Diensteifrig paßte Brunetti sich dem Schritt seines Vorgesetzten an und tat überhaupt so, als wäre er bereits seit Stunden im Büro und hätte sich schon gründlich in sein Tagespensum eingearbeitet. Er widerstand der Versuchung, Patta zu fragen, was er denn von ihm wolle, und verbarg auch sein Erstaunen darüber, daß der Chef schon so früh im Haus war. Hintereinander betraten sie das kleine Vorzimmer, in dem Signorina Elettra mit ihrem Computer residierte.
Die Signorina lächelte ihnen entgegen, wünschte indes nur ihrem Vorgesetzten einen guten Morgen, bevor sie sich wieder dem Bildschirm zuwandte. Patta ging voraus in sein Büro; Brunetti wandte sich auf der Schwelle noch einmal um, aber Signorina Elettra blieb nur Zeit für ein rasches Schulterzucken, bevor er die Tür schloß und Patta zu dessen Schreibtisch folgte. Der Vice-Questore zog den Mantel aus und legte ihn absichtlich so über einen der Besucherstühle, daß Brunetti das Etikett von Ermenegildo Zegna lesen konnte. Der Commissario gab sich beeindruckt und wartete, bis Patta Platz genommen hatte, bevor auch er sich setzte.
»Ich möchte mit Ihnen über diese vucumprà- Geschichte sprechen«, begann Patta.
Brunetti nickte so zerstreut, als hätte er zwar schon einmal von den vucumprà gehört, wäre aber für eine Gedächtnisauffrischung ganz dankbar.
»Jetzt tun Sie gefälligst nicht so, als wüßten Sie nicht, wovon ich rede«, sagte Patta gereizt.
Brunetti legte etwas mehr Geistesgegenwart in seine Miene. »Ja, Vice-Questore - ich höre?«
»Wie Sie sich vielleicht erinnern, sagte ich Ihnen gleich zu Beginn, daß der Fall unsere Kapazitäten überfordern würde«, fuhr Patta fort. Nun hatte er zwar nichts dergleichen gesagt, sondern Brunetti lediglich - und das ohne jede Begründung - befohlen, sich aus dem Fall herauszuhalten; aber der Commissario verzichtete darauf, ihn zu korrigieren. Er nickte vielmehr gleichmütig und wartete ab, mit was für einer Strategie Patta diesmal aufwarten würde. »Nun, ich hatte recht«, konstatierte Patta. Für jemanden, der sich eigentlich immer im Recht glaubte, klang das nachgerade bescheiden. »Es handelt sich hier um einen äußerst komplexen Fall, der weit über Venedig hinausweist, weshalb man ihn einem Sonderkommando des Innenministeriums unterstellt hat, das Ihre Arbeit fortsetzen wird.« Der Vice-Questore nahm Brunetti scharf ins Visier, gespannt, wie er reagieren würde.
Als der Commissario schwieg, fuhr Patta fort: »Die Herren sind bereits eingetroffen und haben ihre Ermittlungen aufgenommen. Ich habe veranlaßt, daß sämtliche Unterlagen an sie ausgehändigt werden.« Wieder hielt er inne, sah sich aber durch Brunettis beharrliches Schweigen genötigt fortzufahren. »Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen unserem Mordfall und einer anderen Spur, die sie gegenwärtig verfolgen.«
»Und was für eine Spur soll das sein, Vice-Questore?« fragte Brunetti respektvoll.
»Bedaure, aber das ist streng geheim.«
»Verstehe.« Brunettis Hirn rotierte und förderte im Rekordtempo die verschiedensten Möglichkeiten zutage.
»Das,
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