Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Welt erblickt hatten, aber, angenagt vom Zahn der Zeit, zu leberbraunen, krumpeligen Fetzen verkommen waren. Brunetti öffnete die Tür und blickte in einen Raum, der so verqualmt war, wie er schon seit Jahren keinen mehr betreten hatte. Er ging an die Theke, bestellte einen Kaffee und heuchelte Desinteresse für die Tätowierungen des Barmanns, ein Knäuel von ineinandergewundenen Schlangen, die mit ihren Schwänzen beide Handgelenke umklammerten und sich an den Armen emporringelten, bis sie unter den Ärmeln des T-Shirts verschwanden. Als der Kaffee kam, erklärte Brunetti: »Ich bin auf der Suche nach Paolo Bovo. Man sagte mir, daß ich ihn hier fände.«
»Paolo!« rief der Barmann zu einem Tisch im Hintergrund des Lokals, wo drei Männer um eine Flasche Rotwein versammelt saßen. »Der Bulle hier will dich sprechen.«
Brunetti fragte mit einem schiefen Lächeln: »Wieso sieht mir das eigentlich jeder an?«
Der Barmann lächelte nicht minder herzlich zurück, nur daß er dabei weniger Zähne zeigte. »Einer, der 'ne Sprache drauf hat wie Sie, kann nur Bulle sein.«
»Viele Leute beherrschen unsere Sprache mindestens so gut wie ich«, wandte Brunetti ein.
»Aber von denen würde keiner nach Paolo fragen.« Der Barmann wischte mit einem erstaunlich sauberen Lappen über die Theke.
Der Commissario spürte eine Bewegung hinter sich und stand, als er sich umwandte, einem Mann gegenüber, der ziemlich genau seine Größe besaß, aber nicht nur sämtliche Haare verloren hatte, sondern zudem mindestens zwanzig Kilo von dem Gewicht, das Brunetti mit sich herumschleppte. Aus nächster Nähe sah man, daß sein Gesicht wohl deshalb so bleich und teigig wirkte, weil ihm auch Augenbrauen und Wimpern ausgefallen waren.
Brunetti streckte ihm die Hand hin. »Signor Bovo?« Als der Mann nickte, fragte Brunetti: »Darf ich Sie zu irgend etwas einladen?«
Bovo schüttelte den Kopf. Mit einer Baßstimme, die mit seiner früheren Statur sicher wesentlich besser harmoniert hatte, sagte er: »Ich hab drüben bei meinen Freunden einen Wein stehen.« Er schüttelte Brunetti die Hand, und der las in seinen Zügen, welche Anstrengung Bovo für einen so festen Händedruck aufbringen mußte. Er sprach Veneziano mit jenem Muraneser Akzent, den nachzuahmen Brunetti und seine Freunde als Kinder ungeheuer komisch gefunden hatten.
»Was wollen Sie von mir?« Betont lässig, um seine Hinfälligkeit zu überspielen, stützte Bovo einen Ellbogen auf die Theke. Vor seiner Erkrankung wäre die Atmosphäre dieses Treffens womöglich aggressiv, vielleicht sogar gefährlich aufgeladen gewesen: Jetzt war das Äußerste, was der Mann hinbekam, eine markige Pose.
»Sie kennen doch Giovanni De Cal«, begann Brunetti und hielt inne.
Bovo sagte eine Weile gar nichts. Er schielte nach dem Barmann, der so tat, als sei ihm ihr Gespräch gleichgültig; dann drehte er sich nach dem Tisch um, an dem seine Kumpels saßen. Brunetti erriet, daß er darauf spekulierte, den Freunden auch jetzt, wo ihm nur mehr die Kraft des Wortes geblieben war, noch mit seinem Mumm zu imponieren. »Das Dreckschwein wollte mir keine Arbeit geben.«
»Wann war das?«
»Nachdem das Dreckschwein von der anderen fornace mich gefeuert hatte«, sagte Bovo, machte aber keine näheren Angaben.
»Und warum wurden Sie entlassen?« fragte Brunetti.
Die Frage schien Bovo aus dem Konzept zu bringen. Brunetti las die Verwirrung in seinen Augen; offenbar hatte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht.
Endlich sagte er: »Weil ich das Zeugs nicht mehr heben konnte.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Sandsäcke, Chemikalien, die Fässer, die wir umsetzen müssen. Wie hätte ich die stemmen sollen, wenn ich mich nicht mal mehr bücken konnte, um mir die Schuhe zuzubinden?«
»Ich weiß nicht.« Brunetti ließ eine Weile verstreichen, bevor er fragte: »Und was geschah dann?«
»Dann bin ich gegangen. Was blieb mir anderes übrig?« Bovo rückte dichter an die Theke, stützte den anderen Ellbogen auf und verlagerte sein Gewicht auf diesen Arm.
Da die bisherigen Fragen ihn offenbar nicht weiterbrachten, kam Brunetti jetzt auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. »Ich wüßte gern, was Sie De Cal über Ribetti sagen hörten. Und es wäre gut, wenn Sie mir die Begleitumstände schildern könnten.«
Bovo winkte dem Barmann und bestellte ein Mineralwasser. Als es kam, prostete er Brunetti zu und trank ein paar Schlucke. Dann stellte er das Glas wieder ab und sagte: »Also vor ungefähr
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