Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Monate hat er mächtig abgebaut, als ob die Krankheit endgültig auf dem Vormarsch sei.«
Brunetti, der De Cal vor einigen Wochen zum ersten und bisher einzigen Mal gesehen hatte, fehlte jede Vergleichsmöglichkeit: Sein Bild war das eines alten Mannes, geschwächt durch jahrelangen übermäßigen Alkoholgenuß und womöglich auch schon leicht senil.
»Ich bin nicht sicher, ob die Frage zulässig ist, Signor Navarro.« Brunetti nahm einen Schluck Wein, ohne daß er Appetit darauf hatte. »Aber glauben Sie, man muß diese Drohungen ernst nehmen?«
»Sie meinen, ob er ihn tatsächlich umbringen würde?«
»Ja.«
Navarro trank seinen Wein aus und stellte das Glas auf den Tisch. Er machte keine Anstalten, sich noch einmal nachzuschenken, sondern winkte die Bedienung heran und bestellte dreimal Kaffee. Erst als das erledigt war, wandte er sich Brunettis Frage zu. »Ich glaube, darauf möchte ich lieber nicht antworten, Commissario.«
Der Kellner räumte ab, und sowohl Brunetti als auch Vianello beteuerten abermals, es habe ausgezeichnet geschmeckt, was Navarro mehr zu freuen schien als den Ober. Als der Kaffee kam, gab Navarro zwei Päckchen Zucker in seine Tasse, rührte um und sagte mit einem Blick auf seine Uhr: »Tja, ich muß wieder an die Arbeit, Signori.« Damit erhob er sich, schüttelte beiden die Hand und rief dem Kellner zu, die Rechnung gehe auf ihn; er werde morgen bezahlen. Brunetti wollte Einspruch erheben, aber da war Vianello schon aufgestanden, streckte abermals die Hand aus und bedankte sich bei dem Alteren. Brunetti blieb nichts weiter übrig, als es ihm gleichzutun.
Zum Abschied bat Navarro schmunzelnd: »Und geben Sie gut acht auf meinen Neffen, ja?« Dann schritt er zur Tür, öffnete sie und war auch schon verschwunden.
Brunetti und Vianello setzten sich wieder hin. Der Commissario trank seinen Kaffee aus und fragte: »Hat Pucetti dich angerufen?«
»Ja.«
»Und was hat er gesagt?«
»Daß du dich hier mit Navarro treffen würdest und ich vielleicht dabeisein sollte.«
Unschlüssig, ob ihm das gefiel oder nicht, sagte Brunetti schließlich: »Das mit dem Atomstrom, das hat mir gefallen.«
»Wobei du die Mehrheit unserer Regierung auf deiner Seite haben durftest.«
9
O je, oje, oje«, stieß Vianello hervor, der den Eingang zur Trattoria im Blickfeld hatte. Brunetti wollte sich schon neugierig umdrehen, aber Vianello legte ihm die Hand auf den Arm und sagte: »Nein, nicht hinschauen.« Als Brunetti ihn fragend ansah, erklärte der Inspektor, hörbar erstaunt: »Was Navarro über De Cal gesagt hat, stimmt: Er sieht viel schlechter aus als neulich in Mestre.«
»Wo ist er denn?«
»Gerade reingekommen. Jetzt steht er an der Bar und trinkt was.«
»Allein oder in Gesellschaft?«
»Er hat jemanden bei sich«, antwortete Vianello, »und der macht die Sache interessant.«
»Wieso?«
»Weil es Gianluca Fasano ist.«
Ein unwillkürliches »Ah!« entfuhr Brunetti, und dann sagte er: »Der Mann ist nicht nur Präsident des Glasbläserverbandes von Murano, sondern, wie ich mir habe sagen lassen, könnte auch bei der nächsten Wahl für das Amt des Bürgermeisters kandidieren.«
»Zweimal ins Schwarze getroffen.« Vianello hob sein Glas, als wolle er einen Trinkspruch ausbringen, trank aber nicht. »Complimenti.« Er hielt den Blick auf Brunetti gerichtet, drehte jedoch hin und wieder den Kopf und schielte zu den beiden Männern an der Bar hinüber. Sollte einer von denen in ihre Richtung schauen, dann, so kalkulierte Brunetti, sähe er zwei Männer an einem Tisch, einen davon mit dem Rücken zu ihm. Bisher waren sie De Cal nur ein einziges Mal begegnet, und da hatte Vianello Uniform getragen; in Zivil würde der Alte ihn kaum wiedererkennen. Vianello wies mit einer Kopfbewegung Richtung Bar und meinte: »Wäre interessant zu wissen, worüber sie reden, nicht wahr?«
»De Cal ist Glasbläser und Fasano sein Innungsvorstand«, entgegnete Brunetti. »Was soll daran geheimnisvoll sein, wenn die sich unterhalten?«
»Murano hat an die hundert Glasbläsereien«, sagte Vianello. »Die von De Cal gehört zu den kleinsten.«
»Aber seine steht vielleicht zum Verkauf«, wandte Brunetti ein.
»Er hat eine erbberechtigte Tochter«, konterte Vianello. Dann langte der Inspektor in seine Tasche und zog eine Fünf-Euro-Note heraus. »Wenigstens das Trinkgeld können wir beisteuern«, sagte er und legte den Schein auf den Tisch.
»Soviel? Na, hoffentlich trifft den Kellner da nicht der Schlag«,
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