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Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas

Titel: Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Brunetti wieder in Erinnerung brachte.
    Er holte die beiden Bände hervor, warf einen Blick auf den Öko-Angstmacher und legte ihn wieder beiseite. Übrig blieb Dante, ein alter Freund, auch wenn er seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte. Da Brunetti von Natur aus optimistisch war, hätte er das Purgatorio vorgezogen, das zumindest ein wenig Hoffnung durchschimmern ließ. Aber mit den Industriekrankheiten als einziger Alternative wählte er dann doch die lichtlose Hölle.
    Wie es ihm im Lauf der Jahre zur Gewohnheit geworden war, öffnete er das Buch aufs Geratewohl. Andere Menschen mochten so mit religiösen Texten verfahren und es dem Schicksal überlassen, welch neue Erleuchtung ihnen zuteil wurde.
    An der Stelle, die Brunetti aufgeschlagen hatte, ließ der eben erst zur Hölle hinabgestiegene und noch mitleidsfähige Dante den Florentiner Cavalcante wissen, daß sein Sohn noch am Leben sei, bevor er seinem Führer tiefer in den Abgrund folgte, schon jetzt angewidert von dem Gestank. Brunetti blätterte rasch weiter und stieß auf den Dieb Vanni Fucci, der seine Beichte mit einer obszönen Gebärde gegen Gott beschließt. Wieder überschlug Brunetti ein gutes Stück, bis er zu dem Landesverräter Bocca kam, dem Dante mit dem Fuß ins Gesicht stößt, ja, ihm sogar ein Büschel Haare ausreißt. Die verdiente Strafe für so einen Abtrünnigen erfüllte Brunetti mit flüchtiger Genugtuung.
    Dann blätterte er zurück zu einer der Stellen, die Tassini mit Anmerkungen versehen hatte. In Canto XIV. waren es der sengende Sand, der blutige Fluß und der feurige Regen, diese ganze groteske Parodie der Natur, die Dante so passend schien für jene, die sich gegen sie versündigt hatten: Wucherer und Sodomiten. Brunetti folgte Dante und Vergil, als sie durch einen glühenden Flockenwirbel in den siebten Höllenkreis hinabstiegen. Unter den Schatten, die ihnen dort begegnen, war einer, an den er sich erinnerte: Brunetto Latini, Dantes verehrter Lehrer. Obwohl er die folgenden Passagen nie besonders gemocht hatte - die Hymne auf Dantes Genie, das der Dichter Ser Benedetto in den Mund legt, und die Bloßstellung offizieller Würdenträger -, las Brunetti weiter bis zum Ende des nächsten Gesangs. Von dort kehrte er zurück zu zwei Stellen, die Tassini dick mit Rotstift unterstrichen hatte:
    »... ein Gefilde, das jedes Grün aus seinem Schoß verbannte ... wo ein kleiner Fluß gesprungen kommt aus jenem Walde, so rot, daß mich jetzt noch davor schaudert.« Am Rand hatte Tassini vermerkt: »Kein Grün. Kein Leben. Nichts.« Und darunter, in schwarzer Tinte: »Der graue Fluß.«
    Wieder überschlug Brunetti einige Seiten und kam zu den Heuchlern. Er erkannte sie an ihren wallenden Mänteln, deren Schnitt den Kutten der Clunyazensermönche nachempfunden war: von außen goldgleißend, daß es blendet, innen jedoch mit schwerem, stumpfem Blei gefüttert, Symbole ihrer Sünden, unter deren Last sie sich zur Buße dahinschleppen müssen bis ans Ende aller Tage.
    Die Verse, die ihre Mäntel beschrieben, waren grün umrandet und durch eine gestrichelte Linie mit einem Ausspruch Vergils auf der gegenüberliegenden Seite verbunden: »Wenn ich auch ein Spiegel war aus bleiernem Glas, würd ich von außen doch dein Bild nicht schneller erfassen.«
    Das Schrillen des Telefons holte Brunetti aus der Hölle zurück. Er ließ seinen Stuhl nach vorn kippen, hob ab und meldete sich mit Namen.
    »Ich wollte mal wieder von mir hören lassen«, sagte Elio Pelusso. Brunettis ehemaliger Klassenkamerad, der seit neuestem in der Nachrichtenredaktion des Gazzettino arbeitete, hatte sich in der Vergangenheit als nützliche Informationsquelle bewährt. Warum er ihn gerade jetzt anrief, war Brunetti schleierhaft, das heißt, er konnte sich nicht erklären, welche Gefälligkeit Elio ihm abluchsen wollte.
    »Ach ja?« gab Brunetti zurück. »Schön, deine Stimme zu hören.«
    Pelusso lachte lauthals. »Was ist, habt ihr alle ein Sensibilitätstraining absolvieren müssen, um besser mit der Presse klarzukommen?«
    »Merkt man das so deutlich?« fragte Brunetti.
    »Ein Polizist, der behauptet, er würde sich freuen, meine Stimme zu hören, verursacht mir Gänsehaut.«
    »Und wenn es ein Freund zu dir sagt?« konterte Brunetti und gab sich gekränkt.
    »Das ist was anderes«, versetzte Pelusso in herzlicherem Ton. »Was ist, soll ich noch mal anrufen, damit wir von vorn anfangen können?«
    Jetzt lachte auch Brunetti. »Nein, Elio, nicht

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