Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
nächsten Morgen gern sprechen würde. Dann trat er ins Freie und gab sich dem hin, was noch vom Tage übrig war. An der Riva degli Schiavoni nahm er die Linie eins bis zur Station Salute und ging von dort, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, zu Fuß weiter. Er ließ sich einfach von seiner Stimmung leiten und vertraute im übrigen auf seinen Ortssinn. Nach der Unterführung bei der Kirche folgte eine Baustelle auf die andere, bis er links abbog zum Ospedale degli Incurabili. Bobos Fresko, das nur noch in Teilen vorhanden war, hatte man jetzt eingeglast, um es vor weiterem Zerfall zu schützen. Wenn es wärmer gewesen wäre, hätte er sich das erste Eis des Jahres gegönnt, allerdings nicht in der Gelateria Nico, sondern in der kleinen weiter unten, nahe dem Lokal Gia Schiavi. So aber spazierte er am Palazzo Giustiniani vorbei und über die Fondamenta Foscarini bis zur Pasticceria Tonolo, wo er sich einen Kaffee und ein Stück Gebäck bestellte. Woraus dann, weil er ja so gut wie kein Mittagessen gehabt hatte, zwei wurden: ein cremegefüllter Schwan und ein kleines, hauchzartes Schokoladenéclair.
In der Auslage eines Ladens, in dem er einmal einen grauen Pullover gekauft hatte, entdeckte er im Vorbeigehen genau den gleichen wieder, nur diesmal in Grün. Es war seine Größe und in kürzester Zeit, ohne daß er ihn anprobiert hätte, auch sein Pullover. Als er wieder auf die calle hinaustrat, fühlte Brunetti sich so glücklich wie einst als Kind, wenn für ihn die Schule aus war, während die anderen noch Unterricht hatten, und niemand wußte, wo er war oder was er tat.
In einer Weinhandlung unweit von San Pantalon kaufte er eine Flasche Nebbiolo sowie einen Sangiovese und einen sehr jungen Barbera. Inzwischen war es fast sieben, und so machte er sich auf den Heimweg. Als er in seine Straße einbog, sperrte Raffi gerade ihre Haustür auf. Brunetti rief ihn beim Namen, aber sein Sohn hörte ihn nicht und schloß die Tür hinter sich. Brunetti nahm beide Einkaufstüten in die linke Hand und kramte mit der freien Rechten nach seinem Schlüsselbund. Doch bis er sich Einlaß verschafft hatte, war es zu spät, um seinem Sohn im Treppenhaus hinterherzurufen.
Kurz vor dem letzten Treppenabsatz hörte er plötzlich Raffis Stimme, obwohl er ihn allein hatte ins Haus gehen sehen. Das Rätsel löste sich, als er nach ein paar weiteren Stufen Raffi, das telefonino am Ohr, lässig neben ihrer Wohnungstür lehnen sah. »Nein, heute abend nicht. Ich muß die Differentialrechnung machen. Du weißt doch, was der uns immer für ein Pensum aufbrummt.«
Brunetti lächelte seinem Sohn zu, worauf der die Hand hob und, mit zur Decke verdrehten Augen männliche Solidarität heischend, beteuerte: »Aber natürlich möchte ich dich sehen!«
Es konnte wohl nur Sara Paganuzzi sein, von der Raffi da so zärtlich umgarnt wurde. Brunetti überließ ihn seinem Schicksal und betrat die Wohnung, in der es nach Artischocken duftete. Das feinherbe Aroma, das sich von der Küche über den Flur in der ganzen Wohnung verbreitete, war so durchdringend, daß Brunetti unwillkürlich an den Gestank denken mußte, der ihm vor zwölf Stunden den Atem benommen hatte. Er stellte seine Einkäufe ab, machte einen Bogen um die Küche und verschwand im Badezimmer.
Zwanzig Minuten später kam er geduscht, mit tropf nassen Haaren, in hellen Baumwollhosen und T-Shirt in den Flur zurück, um seinen Pullover zu holen. Aber die Einkaufstüten waren beide nicht mehr da. Als er die Küche betrat, standen die drei Weinflaschen auf der Anrichte; Paola hantierte am Herd, und Chiara deckte den Tisch.
Paola wandte sich um und begrüßte ihn mit einem Luftkuß; Chiara sagte lächelnd hallo. »Frierst du nicht?« fragte Paola.
»Nein«, antwortete Brunetti, machte kehrt und lief den Flur hinunter zu Raffis Zimmer. Auf dem Weg dorthin wuchs seine gerechte Empörung: Es war sein Pullover; er hatte ihn mit seinem schwerverdienten Geld bezahlt; die Farbe paßte wunderbar zu dieser Hose. In der festen Überzeugung, seinen Sohn gleich in dem neuen Pullover zu erwischen, klopfte er an Raffis Tür und trat nach dessen Aufforderung ein.
»Ciao papà!« Raffi sah von dem Papierwust hoch, der seinen Schreibtisch bedeckte. Das aufgeklappte Lehrbuch vor ihm war, damit die Seiten nicht von selbst umschlugen, mit dem Frosch beschwert, den Chiara letzte Weihnachten für ihn getöpfert hatte. Brunetti erwiderte den Gruß und überflog den Raum mit, wie er meinte, detektivischem
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