Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Elettra, »kommt ganz auf den Standpunkt an.«
»Hat er denn irgendeine Partei hinter sich?« fragte Brunetti.
»Die Grünen schätzen ihn, obwohl er nicht für sie kandidiert. Ich könnte mir vorstellen, daß er sich ein Beispiel an Di Pietro nehmen und seine eigene Partei gründen wird. Aber das ist nur eine Vermutung.«
»Na, hoffentlich hat er dann mehr Glück«, sagte Brunetti in Anspielung auf Di Pietros seinerzeitige Wahlschlappe.
»Hier bitte, das Protokoll, Commissario.« Damit schob Signorina Elettra das Blatt ein Stück weiter über den Schreibtisch. Es war nicht das erste Mal, daß sie sich mit einem solch brüsken Themenwechsel gegen eine politische Diskussion verwahrte. Diesmal jedoch überraschte sie Brunetti mit dem Nachsatz: »Ich bin mir nicht sicher, ob wir einer Meinung sind, was den gebotenen Schutz für die Lagune betrifft, Commissario.« Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.
»Haben Sie vielen Dank« war alles, was Brunetti hervorbrachte, als er das Protokoll an sich nahm. Die steife Förmlichkeit, ja Mißbilligung, die das Gespräch so jäh überschattet hatte, hielt ihn davon ab, ihr Tassinis Notizen zu zeigen; sie wiederum machte sich nicht die Mühe zu fragen, ob sie sonst noch etwas für ihn tun könne.
18
A llein geblieben, stellte Brunetti, einem Seuchenexperten vergleichbar, Betrachtungen darüber an, wen der Ökovirus nach Elettra und Vianello nun wohl als nächstes infizieren würde. Eine Vorstellung, die sich für einen Moment seiner Phantasie bemächtigte; wie hoch war wohl das Ansteckungsrisiko für ihn, der doch so eng mit beiden zusammenarbeitete, und wann würden sich die ersten Symptome bemerkbar machen?
Eigentlich war Brunetti ja überzeugt, daß er sich stärker für Umwelt und ökologische Zukunft einsetzte als der Normalbürger - nur ein Holzklotz wäre gegen die ständigen Appelle seiner Kinder immun gewesen -, aber den hohen Ansprüchen seiner beiden Kollegen genügte er offenbar noch lange nicht. Bloß, wenn es ihnen wirklich so ernst war mit ihrem Engagement: Warum arbeiteten Vianello und Signorina Elettra dann bei der Polizei anstatt für irgendeine Umweltschutzbehörde?
Was das betraf, warum blieb überhaupt noch einer von ihnen im Polizeidienst? Im Fall Brunetti und Vianello konnte man es noch am ehesten verstehen, denn sie waren seit Jahrzehnten dabei. Aber was bewog einen aufgeweckten und ehrgeizigen jungen Mann wie Pucetti, Uniform zu tragen und zum Erhalt der öffentlichen Ordnung bei Tag und Nacht durch die Straßen der Stadt zu patrouillieren? Noch rätselhafter und unerklärlicher verhielt es sich mit Signorina Elettra. Über die er mit Paola übrigens schon lange nicht mehr diskutierte, was weniger an Paola lag als daran, wie es für seine Ohren klang, eine Frau, die nicht die eigene war, zu rühmen oder solch neugierige Betrachtungen über sie anzustellen. Wie lange war sie nun schon in der Questura? Fünf Jahre? Sechs? Brunetti mußte sich eingestehen, daß er heute kaum mehr über sie wußte als zu Anfang: nämlich daß er sich auf ihre Fähigkeiten ebenso verlassen konnte wie auf ihre Diskretion und daß die Spöttermiene, die sie angesichts menschlicher Schwächen aufsetzte, eben nur eine Maske war.
Brunetti legte die Füße auf den Tisch, verschränkte die Hände hinterm Kopf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Während seine Augen blicklos durch den Raum schweiften, rief er sich in Erinnerung, was alles passiert war, seit Vianello ihn gebeten hatte, mit nach Mestre zu kommen. Wie die Perlen eines Rosenkranzes ließ er Ereignisse vorbeigleiten, alle in sich abgeschlossen und doch auch eins zum anderen führend, bis hin zu Tassinis Leiche vor dem brennenden Schmelzofen.
Abgesehen von den zwei Panini in der Bar hatte Brunetti den ganzen Tag nichts zu sich genommen, was ihn jetzt reute. Denn die Sandwiches hatten seinen Appetit, statt ihn zu stillen, eher noch angeregt. Inzwischen aber war es einerseits zu spät, um in einem Restaurant noch eine Mahlzeit zu bekommen, und andererseits zu früh, um zum Abendessen nach Hause zu gehen.
Brunetti beugte sich vor, griff nach Tassinis Notizen und ließ die Blätter, nachdem er sie durchgesehen hatte, eins nach dem anderen wieder auf die Schreibtischplatte niedersegeln. Sein linkes Knie wurde langsam steif, und um es abwinkeln und entlasten zu können, schlug er die Beine übereinander. Als er sich dazu im Sessel hochstemmte, stieß eins der Bücher in seinen Taschen gegen die Lehne, was sie
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