Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
dem Finger aufs Papier. »Wollt ihr wissen, wo der liegt?«
»Ja«, sagte Paola.
»Okay.« Chiara sprang auf und lief in ihr Zimmer, von wo sie den Riesenatlas anschleppte, den sie sich zu Weihnachten gewünscht hatte: die über fünfhundert Seiten starke Ausgabe eines britischen Verlages mit einem Seitenformat fast so groß wie das des Gazzettino. Der beste Atlas, den Brunetti hatte auftreiben können.
Chiara wuchtete den Band auf den Tisch, dann zog sie die darunterliegenden Blätter an den Ecken hervor. Sie brauchte beide Hände, um den Atlas in der Mitte aufzuschlagen; anschließend ging, während sie ihn durchblätterte, ihr Blick beständig zwischen Tassinis Aufzeichnungen und den Buchseiten hin und her. Mit einem ärgerlichen Schnauben kehrte sie nach einer Weile zum Anfang zurück, fuhr mit dem Finger erst oben an der Ziffernskala einer Europakarte entlang, dann rechts neben der Seite abwärts.
Sorgsam wendete sie Blatt um Blatt. Als sie die gesuchte Seite gefunden und aufgeschlagen hatte, blickten alle drei verdutzt auf die Lagune von Venedig.
»Scheint irgendwo auf Murano zu sein«, sagte Chiara. »Aber um die exakten Positionen zu bestimmen, braucht ihr was in größerem Maßstab - am besten eine Seekarte der Lagune.«
Ihre Eltern gaben keine Antwort; beide blickten voll Staunen auf die Karte. Chiara rutschte von der Sofalehne. »Ich muß zurück zu den Gallischen Kriegen«, seufzte sie und verschwand auf ihr Zimmer.
19
O b sie das alles aus diesen Patrick-O'Brian-Schmökern gelernt hat?« brummte Brunetti, als Chiara gegangen war.
Die Frage war eher scherzhaft gemeint, doch Paola beantwortete sie ganz ernsthaft: »Dargestellt wurden Längen- und Breitengrade im neunzehnten Jahrhundert sicher nicht anders als heute: Unserer Tochter stehen inzwischen nur bessere Karten zur Verfügung.«
»Ich werde nie mehr was gegen diese Bücher sagen«, versprach Brunetti.
»Aber ihnen selber trotzdem keine zweite Chance geben?«
Ein Einwurf, den Brunetti geflissentlich überhörte. »Haben wir eigentlich noch diese Seekarten?«
»Die müßten in der Kassette sein«, antwortete Paola und überließ es ihrem Mann, das ramponierte Holzkästchen aufzustöbern, in dem die Familie Reisekarten und Stadtpläne aufbewahrte.
Binnen weniger Minuten war Brunetti mit einem Stapel Karten zurück, reichte Paola die Hälfte davon und nahm sich den Rest vor. Nach kurzem Suchen hielt Paola eine Karte hoch und verkündete: »Hier, die große von der Lagune.«
Es war ein Souvenir aus dem Sommer, in dem sie mit dem lädierten alten Boot eines Freundes die Lagune erkundet hatten. Gut zwanzig Jahre mußte das jetzt her sein, denn die Kinder waren damals beide noch nicht auf der Welt.
Brunetti erinnerte sich an eine sternenklare Nacht, in der sie, von der Ebbe überrascht, in einem Kanal festgesessen hatten.
»Diese Moskitos«, seufzte Paola, die wie er an jene Nacht zurückdachte und daran, was geschehen war, nachdem sie sich gegenseitig mit Insektenschutzmittel eingerieben hatten.
Brunetti ließ seinen Stapel auf den Boden fallen und breitete die Lagunenkarte auf dem Tisch aus. Unaufgefordert gab Paola ihm die Breitenkoordinate der ersten von Tassinis Zahlen an, während er mit dem Finger am Kartenrand abwärts fuhr, bis er die Stelle gefunden hatte. Mit den Knien schob er den Tisch zurück, um mehr Platz zu schaffen. Paola las den Längengrad vor, und er suchte mit dem Finger am oberen Rand der Karte die entsprechende Ortsangabe. Sodann folgte sein linker Zeigefinger einer vertikalen, der rechte einer horizontalen Linie, bis beide sich am Schnittpunkt trafen. Wie sich herausstellte, war die zweite Position nur wenige Meter von der ersten entfernt.
»Die befinden sich alle auf Sacca Serenella«, stellte er fest.
»Was dich nicht zu überraschen scheint.«
»Tut es nicht, nein.«
»Und wieso nicht?«
Obwohl er die genauen Todesumstände aussparte, brauchte Brunetti fast eine halbe Stunde, um ihr Tassinis Geschichte zu erzählen, bis hin zur Durchsuchung seiner Kammer, die gar nicht weit entfernt lag vom Schnittpunkt jener Koordinaten. Er schloß mit der bitteren Unterredung bei Frau und Schwiegermutter.
Als er geendet hatte, ging Paola in die Küche und kam mit dem Grappa zurück. Sie reichte Brunetti die Flasche, und nachdem sie sich wieder neben ihn gesetzt hatte, faltete sie die Karte zusammen und legte sie auf den Stapel am Boden. Dann nahm sie ihm die Flasche aus der Hand und schenkte beiden noch ein Gläschen
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