Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
daneben auf.
»Na, das mit der Kleinen. Daß sie so auf die Welt kommen mußte. Ich hab selber zwei Kinder, und die sind Gott sei Dank normal.«
»Haben Sie Signor Tassinis Tochter einmal gesehen?«
»Nein, aber Giorgio hat mir von ihr erzählt. Nicht nur mir, uns allen.«
»Hat er auch über die möglichen Gründe für ihre Behinderung gesprochen?« fragte Brunetti.
»O Gott, hundertmal hat er uns die vorgebetet, so lange, bis ihm keiner mehr zuhören mochte.« Palazzi dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: »Jetzt, wo er tot ist, tut es mir leid, daß wir nicht mehr Geduld mit ihm hatten. Wäre wohl nicht so schwer gewesen.« Doch dann besann er sich und sagte: »Aber es war furchtbar. Wirklich! Wenn er einmal loslegte, hat er eine geschlagene Stunde auf uns eingeredet oder zumindest so lange, bis man ihm den Mund verbot oder ihn einfach stehenließ. Ich glaube, manchmal ist er extra früher gekommen oder morgens nach seiner Schicht etwas länger geblieben, nur um uns sein Herz auszuschütten.« Palazzi machte eine Pause, dann sagte er abschließend: »Wir haben wohl irgendwann nicht mehr hingehört, oder er hat gemerkt, daß wir uns taub stellten. Jedenfalls war er in letzter Zeit nicht mehr so redselig.«
»War er psychisch gestört?« hörte Brunetti sich zu seinem eigenen Erstaunen fragen.
Palazzi klappte der Kiefer runter bei dieser Respektlosigkeit gegenüber einem Toten. »Nein. Giorgio war nicht verrückt. Er war bloß ... nun ja ... merkwürdig eben. Ich meine, über vieles konnte man sich ganz normal mit ihm unterhalten, aber sowie gewisse Themen aufs Tapet kamen, drehte er einfach durch.«
»Hat er seinen Chef, Signor De Cal, jemals bedroht? Oder Signor Fasano?«
Allein der Gedanke brachte Palazzi zum Lachen. »Giorgio und wem drohen? Wenn Sie so was ernsthaft fragen, dann sind höchstens Sie verrückt.«
»Und umgekehrt?« setzte Brunetti rasch nach. »Haben vielleicht sie ihn bedroht?«
Jetzt war Palazzi ehrlich erstaunt. »Warum hätten sie das tun sollen? Sie konnten ihn doch einfach rausschmeißen. Ihn an die Luft setzen. Er hat in nero gearbeitet, hätte sich also nicht wehren können. Er hätte gehen müssen.«
»Gibt's unter Ihnen viele Schwarzarbeiter?« Brunetti bereute die Frage, kaum daß er sie ausgesprochen hatte.
Es entstand eine lange Pause, und dann sagte Palazzi mit sehr sachlicher, beherrschter Stimme: »Darüber weiß ich nichts, Commissario.« Sein Ton verriet Brunetti, wie wenig Palazzi von nun an wissen würde. Statt nachzuhaken, bedankte sich Brunetti, schüttelte ihm die Hand und wartete, bis auch Foa sich verabschiedet hatte, bevor er das rosa Eimerchen wieder aufnahm. Auf das Vorhaben, sich Zutritt zu den Werkstätten zu verschaffen und nach den Stellen zu suchen, die mit den beiden anderen Koordinatenpunkten übereinstimmten, wollte er vorläufig verzichten.
Palazzi hatte kehrtgemacht und stapfte über das aufgelassene Gelände zurück zu Fasanos Werkstatt. Erst als er ihm nachsah, entdeckte Brunetti die sonnenverblichenen Lettern über der Rückwand des Gebäudes. »Vetreria Regini«, entzifferte er.
»Signor Palazzi!« rief er dem Davonschreitenden nach.
Palazzi blieb stehen und sah sich um.
»Was ist das?« fragte Brunetti und wies auf die Lettern.
Palazzi folgte Brunettis Finger mit den Augen. »Der Name der Glasbläserei«, rief er zurück. »Vetreria Regini.«
Er sagte es so langsam, als bezweifle er, daß Brunetti die Inschrift ohne Hilfe lesen könne.
Schon wollte Palazzi seinen Weg fortsetzen, doch Brunettis Stimme hielt ihn zurück: »Ich dachte«, rief er, »der Betrieb gehört Fasano. Familienbesitz.«
»Ist es auch«, gab Palazzi zur Antwort. »Mütterlicherseits.« Damit machte er endgültig kehrt und ging davon.
22
B runetti widerstand der Versuchung, noch auf Murano zu bleiben und in der Trattoria Nanni auf eine Portion frischen Fisch mit Polenta einzukehren. Statt dessen ließ er sich von Foa zur Questura zurückbringen, und als sie dort anlangten, schickte er den Bootsführer mit dem Eimerchen zu Bocchese ins Labor, um Schlamm und Wasser analysieren zu lassen.
Da Paola und die Kinder heute mittag bei ihren Eltern eingeladen waren, aß Brunetti in einem Restaurant in Castello; eine Mahlzeit, die er achtlos verzehrte und schon wieder vergessen hatte, als er das Lokal verließ. Anschließend machte er einen Spaziergang nach San Pietro di Castello, wo er sich die Grabstele am Bischofsthron mit den eingravierten Koranversen ansah.
Weitere Kostenlose Bücher