Brunetti 15 - Wie durch ein dunkles Glas
Die andauernde Debatte darüber, ob es sich hierbei nun um Kulturdiebstahl handele oder um ein multikulturelles Statement, schmälerte seine Bewunderung für die herrliche Schnitzerei nicht im mindesten.
Ohne Eile trat er den Rückweg zur Questura an. Kurz vor sechs kam Vianello zu ihm herauf, sah die gebundenen Jahrgänge der Gazzetta Ufficiale auf seinem Schreibtisch und wollte wissen, was es damit auf sich habe. Nachdem Brunetti ihm den Zusammenhang erklärt hatte, fragte er den Inspektor, wie die Glasmanufakturen es seiner Ansicht nach vor dem Erlaß der neuen Ökogesetze mit der Entsorgung gehalten hätten.
»Ganz nach Lust und Laune«, entgegnete Vianello so entrüstet, wie es von ihm zu erwarten war. Dann aber setzte er zu Brunettis Erstaunen hinzu: »Allerdings glaube ich nicht, daß sie auf Murano viel Schaden angerichtet haben.«
Brunetti wies auf einen der beiden Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. »Und warum nicht?« fragte er.
Vianello setzte sich. »Nun ja, ›Schaden‹ ist ein relativer Begriff«, sagte er. »Jedenfalls wenn man's mit Marghera vergleicht. Das ändert nichts an dem, was auf Murano geschehen ist, ich weiß. Aber die wahren Mörder sitzen in Marghera.«
»Du hast wirklich einen Haß auf die, nicht?« fragte Brunetti.
Vianellos Miene war todernst. »Ja, natürlich: wie jeder denkende Mensch. Und Tassini gab vor, Murano zu hassen. Nur daß er sich nie so verhalten hat.«
Brunetti konnte ihm nicht folgen. »Das verstehe ich nicht, Lorenzo.«
»Wenn er es wirklich geglaubt hätte - daß die Arbeit bei De Cal für das Unglück seiner Tochter verantwortlich war -, dann hätte er versucht, sich zu rächen. Aber alles, was er gemacht hat, war, mit seinen Kollegen in der fornace zu reden. Und denen einzuhämmern, daß De Cal an allem schuld sei.« »Und was schließt du daraus?« forschte Brunetti.
»Daß er nur dem eigenen Schuldbewußtsein Luft machte«, gab Vianello zur Antwort.
Der Auffassung war Brunetti von Anfang an gewesen, brauchte also nicht mehr darauf einzugehen. »Aber was ist mit dir, Lorenzo? Warum ist dir Marghera so verhaßt?« fragte er.
»Weil ich Kinder habe«, erwiderte Vianello.
»Ich auch«, gab Brunetti zurück.
»Wenn du nach Hause kommst«, sagte Vianello in ruhigerem Ton, »frag deine Frau nach der Beilage des heutigen Gazzettino. «
»Welche Beilage?«
Vianello stand auf und wandte sich zum Gehen. »Frag sie einfach«, meinte er. Schon an der Tür, hatte er aber doch noch etwas mitzuteilen. »Ich habe mit ein paar von De Cals Leuten gesprochen. Sie sagen, die Geschäfte gehen schlecht. Alle, mit denen ich mich unterhalten habe, wußten etwas über angebliche Verkaufsabsichten. Über seine Preisforderungen wollte zwar jeder was anderes gehört haben, aber die Summe lag immer weit über einer Million.«
»Sonst noch was?« fragte Brunetti.
»Ach ja: Tassini hatte den Zweitjob als Nachtwächter bei Fasano erst vor zwei Monaten angetreten.«
»Und davor?«
»Ganz früher hat er in der molatura gearbeitet. Nach der Geburt seiner Kinder wurde er dann De Cals uomo di notte, aber das weißt du ja.«
»War das nun ein Auf- oder Abstieg?« Brunetti fragte es aus reiner Neugier. »Er hatte schließlich eine Frau und zwei Kinder zu unterhalten.«
Vianello zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Fasanos Nachtwächter ging in Rente, und Tassini hat sich um die Stelle beworben. So wurde es mir wenigstens von zwei seiner Kollegen berichtet. Er habe gern nachts gearbeitet, weil er da nebenher lesen konnte. Wie die beiden das erzählten, hätte man allerdings glauben können, er wollte sich einen zweiten Kopf wachsen lassen.« Vianello lachte über seinen Kommentar, Brunetti stimmte mit ein, und die Spannung zwischen ihnen verflog.
Nachdem der Inspektor gegangen war, nahm Brunetti seine Neugier auf die ominöse Zeitungsbeilage zum Vorwand für einen frühen Feierabend und kam eine Stunde vor der gewohnten Zeit nach Hause.
Paola saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, vor sich ein Manuskript. Brunetti küßte sie auf die dargebotene Wange und sagte: »Vianello hat mir aufgetragen, dich nach einer Beilage im heutigen Gazzettino zu fragen.«
Einen Moment lang stutzte sie, doch dann schob sie das Manuskript zur Seite, bückte sich und hievte ein ungeordnetes Bündel Papiere und Zeitungen auf den Tisch. »Das sieht ihm ähnlich, nicht?« meinte sie lächelnd und begann in dem Stoß zu wühlen.
»Um was geht's denn eigentlich?«
Paola suchte
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