Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
vielmehr wie sie's gesagt hat, war schon ziemlich viel herauszuhören. Du weißt ja, wie das ist.«
Wenn es doch nur so wäre, dachte Brunetti. »Und die Gründe? Hat Gabi da irgendeine Andeutung gemacht?«
Paola schloß die Augen, und er sah zu, wie sie das Gespräch Revue passieren ließ. »Nein, nicht daß ich wüßte.«
»Möchtest du ein Glas Wein?« fragte er.
»Gern! Und danach können wir essen.«
Als Zeichen seines Dankes küßte er ihr noch einmal die Hand. »Weiß oder rot?« fragte er.
Paola entschied sich für weiß, wohl im Hinblick auf den Risotto mit Lauch, den sie als ersten Gang auftischte.
Die Schule hatte gerade wieder angefangen, und folglich sprachen die Kinder während des Essens vor allem darüber, wie ihre Klassenkameraden den Sommer verbracht hatten. Ein Mädchen aus Chiaras Klasse war zwei Monate in Australien gewesen und beschwerte sich nun darüber, daß sie den heimischen Sommer gegen den Winter down under eingetauscht habe und bei ihrer Rückkehr im Herbst gelandet sei. Eine andere Klassenkameradin hatte auf Santorin in einer Eisdiele gejobbt und dabei leidlich Deutsch gelernt. Raffis bester Freund war von Neufundland nach Vancouver getrampt; die lautlichen Anführungszeichen, mit denen Raffi das »getrampt« versah, ließen allerdings darauf schließen, daß Flugzeug und Bahn das Reisen erleichtert hatten.
Brunetti bemühte sich redlich, dem lebhaften Tischgespräch zu folgen, doch der Anblick der beiden Teenager führte ihn immer wieder auf Abwege, und er fühlte sich von einem unbändigen Besitzerglück übermannt: Das waren seine Kinder! Ein Teil von ihm lebte in ihnen fort und würde sich weitervererben auf ihre Kinder und Kindeskinder. Dennoch, sosehr er sich auch anstrengte, äußerlich erkannte er sich kaum in ihnen wieder: Da schien die Natur nur Paola kopiert zu haben. Dies war ihre Nase, das die Schattierung ihrer Haare und dort die widerspenstige Locke hinter ihrem linken Ohr. Als Chiara irgendein ihr entgegengehaltenes Argument mit einer Handbewegung beiseite wischte, war auch das Paolas Geste.
Als nächsten Gang gab es orata mit Zitrone, was wiederum für den Weißwein sprach. Brunetti begann zu essen, doch etwa bei der Hälfte seiner Portion nahm Chiara abermals seine Aufmerksamkeit gefangen. Sie zog jetzt mit vollem Elan über ihre Englischlehrerin her.
»Und als ich nach dem Konjunktiv gefragt habe, wißt ihr, was sie mir da geantwortet hat?« So fassungslos, wie sie das vorbrachte, war sie wohl zuvor auch im Unterricht gewesen, und ihr Blick in die Runde forderte die anderen auf, ihre Empörung zu teilen. Als aller Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet waren, rief Chiara verächtlich: »Daß der erst next year drankommt!« Wie um ihrem Unmut Luft zu machen, ließ sie klirrend die Gabel fallen.
Paola schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Next year. Unbelievable!« murmelte sie, unwillkürlich auch ins Englische wechselnd.
In der Hoffnung, bei ihm auf ähnliches Befremden zu stoßen, wandte Chiara sich an ihren Vater. Doch sein abwesender Gesichtsausdruck ließ sie innehalten. Erst musterte sie ihn fragend, dann wiegte sie langsam den Kopf hin und her, um schließlich, wie in Beantwortung einer von ihm gestellten Frage, im unbefangensten Plauderton zu bemerken: »Ich hab ihn in der Schule gelassen, papà.« Als Brunetti schwieg, ergänzte sie: »Nein, heute hab ich ihn nicht mit nach Hause gebracht.«
Wie aus einer Trance erwachend, stammelte Brunetti: »Entschuldige, Chiara. Du hast was nicht mitgebracht?«
»Meinen zweiten Kopf.«
Brunetti hatte keinen blassen Schimmer, was am Tisch vorgefallen war, während er sich am Anblick seiner Kinder gelabt hatte. »Ich verstehe nicht«, gestand er kleinlaut. »Welchen zweiten Kopf?«
»Den, nach dem du dir schon den ganzen Abend die Augen ausschaust, papà. Ich wollte dir bloß sagen, daß ich ihn nicht dabeihabe: Darum kannst du ihn nicht sehen.« Und zum Beweis hob sie die Hände an die Ohren und wackelte mit den Fingern durch die Luft.
Raffi prustete los und vergewisserte sich mit einem Blick auf seine Mutter, daß auch sie lächelte.
»Soso«, brummte Brunetti verdrießlich und widmete sich wieder seinem Fisch. »Hoffentlich hast du ihn sicher untergebracht.« Es gab Birnen zum Nachtisch.
19
E s ging schon auf den Feierabend zu, als Vianello tags darauf in Brunettis Büro erschien. Die Miene des Inspektors spiegelte jene wohlverdiente Zufriedenheit, die sich einstellt, wenn man entgegen aller Prognosen
Weitere Kostenlose Bücher