Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Bianca Marcolinis Vater zum Opfer fallen.
Brunetti schlenderte ohne Ziel durch die Gegend und überließ seinen Beinen die Führung, bis er sich nach einer Weile am Fuß der Brücke wiederfand, die zum Palazzo Querini Stampalia führte. Der Mann am Schalter kannte den Commissario und winkte ihn, als er eine Eintrittskarte lösen wollte, einfach durch.
Brunetti stieg hinauf zur Galerie, die er seit geraumer Zeit nicht mehr besucht hatte. Dabei schätzte er die hier ausgestellten Porträts ganz besonders, wenn auch weniger um ihres künstlerischen Wertes als um der verblüffenden Ähnlichkeit willen, die etliche davon mit Menschen aus seinem täglichen Umfeld hatten. Das Bildnis des Gerolomo Querini zum Beispiel war, obwohl vor fast fünfhundert Jahren gemalt, Vianello zum Verwechseln ähnlich - einem jüngeren Vianello zwar, aber immerhin. Brunetti hegte eine große Vorliebe für diese Gemälde und freute sich darauf, sie jetzt wieder in der Reihenfolge, die ihm im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden war, abzuschreiten.
Am meisten begeisterte er sich für Bellinis Darbringung Jesu im Tempel, das er sich wie immer bis zum Schluß aufhob. Der Maler hatte den Moment eingefangen, in dem der Hohepriester Simeon den Heiland wieder an seine Mutter übergibt. Das Kind war in Windeln gewickelt, ja, mit mehreren Stofflagen und Bändern regelrecht verschnürt, und da auch die Arme noch mit Binden fixiert waren, hatten nur die Fingerspitzen freies Spiel. Bei diesem Anblick fiel Brunetti unwillkürlich wieder Pedrollis Kind ein, das ebenfalls eingeschlossen war, wenn auch auf staatliches Geheiß. Die Madonna auf dem Gemälde barg ihren Sohn schützend mit beiden Armen; über das Wickelkind hinweg musterte sie den Hohenpriester mit kühl abschätzigem Blick. Ihr Argwohn - und das bemerkte Brunetti heute zum ersten Mal - spiegelte sich in den Zügen aller Nebenfiguren, insbesondere auf dem Antlitz eines Jünglings am äußeren rechten Bildrand, dessen Blick genau auf den Betrachter zielte. Wie, so schien er zu fragen, wie könne man nur bei dem, was hier geschah, auf einen guten Ausgang hoffen.
Brunetti wandte sich brüsk ab, machte kehrt und ging wieder in die anderen Säle zurück. Wo er vor den entspannten Gesichtern auf den Porträts von Bombelli und Tiepolo das beklemmende Gefühl loszuwerden hoffte, das ihn beim Anblick des gefesselten Kindes überkommen hatte.
Beim Abendessen war er noch unaufmerksamer als gewöhnlich, nickte bloß, wenn Paola oder die Kinder etwas sagten, und trug selbst kaum etwas zur Unterhaltung bei. Nach Tisch zog er sich ins Wohnzimmer und nach Sankt Petersburg zurück, wo er seinen Marquis sehr philosophisch gestimmt antraf. Rußland, so de Custine, sei ein Land, in dem der Hang zur Verschwendung ein Volk beherrscht, das gleichwohl nicht einmal mit dem Notwendigsten versorgt ist. Brunetti schloß die Augen und überlegte, ob und inwieweit diese Kritik auch für die Gegenwart noch gültig war.
Als er Paolas Schritte erkannte, seufzte er, ohne die Augen zu öffnen: »Es ändert sich nichts, rein gar nichts.«
Sie warf einen Blick auf den Buchtitel und meinte: »Ich wußte, daß dir diese Lektüre nicht gut bekommen würde.«
»Natürlich ist es nicht politisch korrekt, so was zu sagen, noch dazu wo die Führer unserer beiden großen Nationen so dicke Freunde sind, aber es scheint damals ein schreckliches Land gewesen zu sein und ist es, dem Vernehmen nach, heute immer noch.« Er hörte Gläser klirren und sah, mit einem Auge blinzelnd, wie Paola zwei vor ihm auf den Tisch stellte.
»Lies Tolstoi«, empfahl sie. »Der wird's dir näherbringen.«
»Das Land oder mein Buch?« erkundigte sich Brunetti, immer noch mit geschlossenen Augen.
Paola überhörte die Frage. »Zeit für meine Tratschstunde«, verkündete sie mit einem Klaps auf seine Füße, und er zog die Beine an, um ihr Platz zu machen.
Dann erst schlug er die Augen auf und nahm das Glas entgegen, das sie ihm reichte. Er nippte daran, sog in tiefen Zügen das Grappa-Aroma ein und nahm noch einen Schluck. »Ist das der Gaja?« fragte er.
»Hm-hm, die Flasche ist noch von Weihnachten. Aber mit etwas Glück bekommen wir dieses Jahr wieder eine. Also spricht, finde ich, nichts dagegen, die hier zu trinken.«
»Ob es im Himmel Grappa gibt, was meinst du?« wollte Brunetti wissen.
»Da es keinen Himmel gibt«, erwiderte sie, »kann's dort auch keinen Grappa geben. Ein Grund mehr, ihn zu genießen, solange er uns vergönnt
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