Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Geständnis, daß sie ihr Kind verkauft habe, ohne sich groß um sein weiteres Schicksal zu kümmern.
Und Pedrolli? Würde es ihm ergehen wie den Eltern, deren Kinder tatsächlich einem Entführer in die Hände fielen? Und die sich - im schlimmsten Fall ein Leben lang - mit der Frage quälten, ob ihr Sohn oder ihre Tochter tot oder noch am Leben sei? Würde er fortan unermüdlich im Gesicht jedes kleinen Jungen, dann der Heranwachsenden und endlich bei jedem Mann nach den vertrauten Zügen aus seiner Erinnerung suchen?
»›Oh, daß ich aller Vaterschaft entsagen könnt‹«, zitierte Brunetti leise.
20
B runetti schlief schlecht in dieser Nacht; nicht etwa, weil er zuviel Grappa getrunken hatte, sondern weil die Gedanken an Pedrollis Kind ihn bis in seine Träume verfolgten. Wieviel von diesen ersten Monaten seines Lebens würde dem kleinen Alfredo in Erinnerung bleiben? Welchen psychischen Schaden trug ein Mensch davon, der in frühester Kindheit einem liebevoll behüteten Zuhause entrissen und in ein Fürsorgeheim verbannt wurde?
In jenem unruhigen Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen ermahnte Brunetti sich wiederholt, das Ganze zu vergessen: den erfolgreichen Arzt Dottor Pedrolli, den hilflosen Mann im Krankenhaus und vor allem das wehrlose Kind. Die juristischen oder biologischen Aspekte kümmerten Brunetti herzlich wenig: Ihm genügte es, daß Pedrolli den Kleinen als seinen Sohn ansah; daß die leibliche Mutter ihn aus freien Stücken weggegeben hatte; und daß der Doktor seinen kleinen Alfredo liebte.
Bianca Marcolini dagegen war ihm ein Rätsel; ihre Gefühle vermochte er nicht zu ergründen. Aber so lang ihm diese Nacht auch wurde, er brachte es nicht über sich, Paola, die friedlich neben ihm schlief, zu wecken und sie nach den Empfindungen einer Frau in solch einer Situation zu fragen. Außerdem: Wieso sollte Paola sich darauf besser verstehen als er? Wahrscheinlich würde sie ihm, danach befragt, krasses sexistisches Denken vorwerfen. Andernfalls müsse er sich doch wohl in die Gefühle einer Frau hineinversetzen können? Aber genau dieser Mangel an weiblichen Regungen - wieder so ein Schubladendenken, für das Paola über ihn hergefallen wäre - war es ja, was ihn an Bianca Marcolini so irritierte. Auch mütterliche Gefühle hatte Pedrollis Frau, Paolas Erkundigungen zufolge, kaum je an den Tag gelegt.
Es ging schon auf sechs Uhr morgens zu, als Brunetti plötzlich einfiel, wie er mehr über Bianca Marcolini und ihr Verhältnis zu dem Kind erfahren könnte. Bald darauf schlummerte er ein, doch beim Erwachen war der Gedanke immer noch da. Er lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Drei Glockenschläge erklangen: In einer Viertelstunde war es sieben, dann würde er aufstehen, Kaffee kochen und Paola eine Tasse ans Bett bringen. Sie hatte an diesem Morgen ein Seminar und hatte ihn gebeten, sie, bevor er zur Arbeit ging, zu wecken.
Bevor er zur Arbeit ging ... nun, das konnte auch jetzt schon gelten, oder nicht? »Paola?« sagte er leise. Er wartete, wiederholte ihren Namen und wartete noch ein bißchen länger.
Die Glocken läuteten zur vollen Stunde. Für Brunetti ein Zeichen, daß er seine Frau nun wirklich wecken könne. Er drehte sich auf die Seite, legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie sanft. »Paola«, sagte er noch einmal.
Ein leises Zucken durchlief ihren Körper. »Paola«, wiederholte er. »Glaubst du, dein Vater könnte mir ein Treffen mit Giuliano Marcolini verschaffen?« Der letzte Glockenton verhallte, und die Welt versank wieder in Schweigen.
»Paola, könnte dein Vater mir ein Treffen mit Giuliano Marcolini vermitteln?«
Das Bündel an seiner Seite rückte von ihm ab. Er berührte wieder ihre Schulter, und das Bündel rutschte noch ein Stück weiter weg.
»Paola, könnte -«
»Wenn du das noch einmal sagst, dann ertränke ich die Kinder.«
»Dazu sind sie längst zu groß.«
Unter der Decke strampelte und zappelte es, und dann sah er ihr Profil. Ein Auge klappte auf.
»Ich mache dir einen Kaffee«, sagte er beflissen und schwang sich aus dem Bett. »Und dann reden wir.«
Es war zwar nicht leicht, ihr das Versprechen abzuringen, aber am Ende erklärte Paola sich doch bereit, bei ihrem Vater ein gutes Wort einzulegen, damit er ihrem Mann zu einem Treffen mit Marcolini verhalf. Brunetti wußte natürlich, daß er eine solche Begegnung selber hätte auf dem Dienstweg herbeiführen können. Aber mit Conte Orazio Falier als Fürsprecher öffneten
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