Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
Commendatore war ohnehin kleiner als Brunetti, doch sein mächtiger Brustkasten und der stattliche Bauch, der sich darunter wölbte, ließen ihn noch gedrungener erscheinen. Er trug einen ähnlich teuren Anzug wie in der Nacht im Krankenhaus, aber nicht einmal die angeblich streckenden grauen Längsstreifen vermochten seinen Leibesumfang zu kaschieren. Die Fettpölsterchen im Gesicht glätteten alle Falten und ließen ihn nicht wesentlich älter erscheinen als Brunetti.
Seine tiefliegenden Augen waren klar und hell, die Augen eines Norditalieners, auch wenn seine Haut tiefgebräunt war wie die eines Arabers. Er hatte erstaunlich große Ohren, was durch das kurzgeschorene Haar besonders auffiel, und typische Arbeiterhände. Seine Nase war lang und klobig.
»Ah, Commissario«, sagte er und kam Brunetti noch ein Stück entgegen. Für einen so schwergewichtigen Mann bewegte er sich überraschend graziös. Brunetti ergriff die Pranke des Commendatore mit einem Lächeln, das auch dann nicht entgleiste, als Marcolini ihm alle Knochen seiner Hand zu brechen suchte. Er erwiderte vielmehr den Druck, ja steigerte ihn noch, bis Marcolini schließlich losließ und dieses stumme Kräftemessen mit einem anerkennenden Lächeln quittierte.
Er winkte Brunetti zu einem Stuhl, der identisch war mit denen im Vorsaal, und rückte dann einen zweiten für sich so zurecht, daß er Brunetti gegenübersaß. »Was kann ich für Sie tun, Commissario?« fragte Marcolini. Auf dem massiven Holzschreibtisch hinter ihm standen neben Aktenstößen und Papieren ein Telefon sowie eine Reihe von silbergerahmten Fotografien, die Brunetti allerdings nur von hinten sah.
»Mir einen Arzt holen, der meine Hand versorgt«, antwortete Brunetti und stimmte dazu ein möglichst kerniges Gelächter an.
Marcolini lachte schallend mit. »Wenn ich einen Mann kennenlerne, möchte ich immer gleich wissen, wen ich vor mir habe«, sagte er. »Das eben war ein guter Test.«
Brunetti verzichtete auf den Hinweis, daß ein höfliches Lächeln und eine ebensolche Vorstellung denselben Zweck erfüllen könnten und auf jeden Fall weniger schmerzhaft wären. »Und?« fragte er. »Was meinen Sie?« Er sprach Veneziano und würzte seine Stimme obendrein mit einem rauhen Beigeschmack.
»Ich könnte mir vorstellen, daß wir beide die gleiche Sprache sprechen.«
Brunetti setzte zu einer Antwort an, die dann aber, als habe er sich eines Besseren besonnen, ausblieb.
»Na, was denn?« ermunterte ihn Marcolini.
»Meine Stellung erlaubt es mir nur selten, wie ein richtiger Mann zu reden«, bekannte Brunetti. »In der Öffentlichkeit, meine ich. Wir sind von Haus aus vorsichtig mit dem, was wir sagen. Muß so sein. Berufsbedingt.«
»Vorsichtig in bezug auf was?« hakte Marcolini nach.
»Ach, Sie wissen schon. Ich würde keine Meinung äußern wollen, die irgend jemanden kränken könnte - die aggressiv rüberkäme oder sonstwie Anstoß erregen würde.« Brunetti leierte seine Antwort herunter wie irgendein Fachchinesisch, das man ihm gegen seinen Willen eingetrichtert hatte.
»Um als politically correct zu gelten?« Marcolini stieß die Fremdwörter mit starkem Akzent hervor.
Brunettis höhnisches Gelächter schallte frei heraus. »Ja, um politically correct rüberzukommen«, bestätigte er, und seine Zunge tat sich genauso schwer mit dem Englischen wie die von Marcolini.
»Vor wem müssen Sie sich denn vorsehen?« Marcolini klang aufrichtig interessiert.
»Ach, das können Sie sich doch denken: vor Kollegen, der Presse, den Kunden, die wir einsperren.«
»Was denn, selbst vor Verbrechern, die Sie dingfest machen?« fragte Marcolini mit geheucheltem Erstaunen.
Brunetti setzte ein möglichst verschlagenes Grinsen auf. »Aber gewiß. Alle Menschen sind gleich, Signor Marcolini, und haben das Recht auf zuvorkommende Behandlung.«
»Gilt das auch für extracomunitari?« fragte Marcolini mit plumper Ironie.
Brunetti begnügte sich mit einem Schnauben, das vor Verachtung triefte. Er mimte einen Mann, der, auch wenn er sich noch nicht traute, frei von der Leber weg zu reden, seinem Gesinnungsgenossen doch zu verstehen geben wollte, was er von Ausländern hielt.
»Mein Vater sagte noch Nigger dazu«, bekannte Marcolini. »Hat in Äthiopien gekämpft, der alte Herr.«
»Meiner auch«, log Brunetti, dessen Vater als Soldat in Rußland gewesen war.
»Ach, anfangs ging's so gut! Mein Vater hat mir erzählt, sie hätten gelebt wie die Fürsten. Aber dann ist alles
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