Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
bringe Sie zu seinem Büro.«
Brunetti begrüßte den Wechsel zum Dialekt mit einem hörbaren Seufzer, befreit von der Last, sich einer Fremdsprache bedienen zu müssen.
Zwar hatte Brunetti keine Ahnung, wie ein millionenschwerer Klempner die Geschäftsstelle seiner Partei ausgestalten würde, aber was er hier sah, wirkte durchaus passend. Die Fenster an einer Wand des Flurs, durch den der junge Mann ihn führte, gewährten einen Blick auf die Häuser gegenüber und zurück zum Campo Santa Marina. Die andere Wand war mit paarweise gekreuzten Lega-Fahnen an langen Holzstangen dekoriert, etwa so groß wie die, welche die Fahnenschwenker beim Palio-Umzug tragen, und damit für den nicht sehr hohen Korridor entschieden überdimensioniert. Dazwischen lehnten ein paar Schilde, Kopien mittelalterlicher Originale, die aussahen, als bestünden sie aus mit reichlich Schellack behandeltem Pappmaché. Am Ende des Flurs betraten sie einen weitläufigen Raum mit einem wohl erst kürzlich und in überaus grellen Farben restaurierten Deckenfresko. Für die dargestellte himmlische Szene waren offenbar nicht nur blitzende Schwerter unerläßlich gewesen, sondern auch großflächig entblößtes, rosiges weibliches Fleisch. Weiße Stuckdekorationen umrahmten das Gemälde mit einem flackernden Heiligenschein, von dessen Rändern pastellfarbenes Rankenwerk bedrohlich zu den Saalecken hin wucherte.
Sechs Stühle aus so hochpoliertem Holz, daß sie für Plastik hätten durchgehen können, standen an einer Wand aufgereiht, und darüber hing ein goldgerahmter Druck, auf dem Vittorio Emanuele III. eine Truppenparade abnahm, womöglich vor einer der verheerenden Schlachten im Ersten Weltkrieg. Bei der Betrachtung des Bildes machte Brunetti eine merkwürdige Entdeckung: Entweder hatte der Maler dem König gut zwanzig Zentimeter Körpergröße extra spendiert, oder die Mehrzahl der Soldaten, die im Ersten Weltkrieg auf italienischer Seite kämpften, waren zwergwüchsig gewesen.
»Das ist vor Caporetto«, sagte der junge Mann.
»Ah!« hauchte Brunetti. »Eine bedeutende Schlacht.«
»Der ganz gewiß weitere folgen werden«, versetzte der junge Mann mit so sehnsüchtiger Stimme, daß Brunetti an sich halten mußte, um ihn nicht entgeistert anzustarren.
»Zweifellos«, murmelte Brunetti, sobald er sich wieder gefaßt hatte, und nickte mit männlichem Stolz zu der dargestellten Szene hin.
Ein rotes Plüschsofa, das aussah, als hätte es ursprünglich in einem französischen Bordell gedient, stand an der gegenüberliegenden Wand, und darüber hingen weitere Drucke von ausgesuchten Schlachtengemälden. Die Waffen unterschieden sich von Bild zu Bild, aber ein jedes wartete mit dem Kniefall eines jungen Soldaten auf, dessen eine Hand die italienische Fahne emporreckte, während er sich mit der anderen ans Herz griff.
Auf dem Tisch vor dem Sofa lagen eine Reihe gelb-violetter Broschüren und Flugschriften, auf deren Umschlag jedesmal der unverwechselbare Greif seine schützenden Schwingen über die italienische Fahne breitete. Brunetti hob den Blick von den Heften und lächelte dem jungen Mann zu.
Bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, ertönte hinter einer Tür am Ende des Raums eine laute Stimme. Woraufhin der junge Mann sich eilig in Bewegung setzte und über die Schulter zurückrief: »Es ist soweit! Der Commendatore wird Sie jetzt empfangen.«
Brunetti folgte ihm. Als der junge Mann das angrenzende Zimmer betrat, schlug er die Hacken zusammen, was Brunetti wie das tänzerische Pendant zum Symbol der geballten Faust anmutete. »Signor Brunetti wünscht Sie zu sprechen, Commendatore«, schnarrte er und machte tatsächlich eine Verbeugung, ehe er den Besucher hineinführte.
Kaum hatte Brunetti die Schwelle überquert, zog sich der junge Mann zurück und schloß die Tür hinter sich. Brunetti hörte seine Schritte im Saal verhallen, dann richtete er den Blick auf die Gestalt, die sich eben hinter dem Schreibtisch erhob ... Und erkannte den Mann, vor dem Patta auf dem Krankenhausflur gekatzbuckelt hatte.
Um seine Verblüffung zu überspielen, führte Brunetti die Hand vor den Mund und räusperte sich. Er wandte das Gesicht ab und hustete ein-, zweimal, bevor er sich, ein verlegenes Lächeln zur Schau tragend, dem Schreibtisch näherte.
In anderen Kulturen hätte man Giuliano Marcolini vielleicht einfach als dick bezeichnet. Den Italienern hingegen, deren Sprache so reich an Beschönigungen ist, galt ein Mann wie er als »robusto«. Der
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