Brunetti 16 - Lasset die Kinder zu mir kommen
aber hatte, wie er eben selbst erst so genüßlich konstatierte, gar keine Straftat begangen. Vielmehr hatte er gehandelt wie ein mustergültiger Bürger und der Polizei pflichtgemäß einen Gesetzesverstoß angezeigt.
Bei diesem Gedanken hielt es Brunetti nicht länger auf seinem Stuhl. Und nur mit äußerster Überwindung gelang es ihm, seine Rolle weiterzuspielen. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeit, Signor Marcolini.« Er zwang sich, die Hand auszustrecken, und fuhr fort: »Ich werde das, was Sie mir mitgeteilt haben, an den Questore weiterleiten.«
Der Altere erhob sich ebenfalls. Leutselig lächelnd, ergriff er Brunettis dargebotene Hand. Dann wandte er sich um und schritt seinem Gast voraus Richtung Tür. Beim Anblick seines bulligen, in feines Tuch gewandeten Rückens, überkam Brunetti ein unbändiges Verlangen, auf Marcolini loszugehen. Ja, er sah sich den Älteren förmlich niederschlagen! Doch das hätte nur dann einen Sinn, wenn er es auch fertigbrächte, den Mann zu treten, sobald er am Boden lag. Und da Brunetti wußte, daß er dazu nicht fähig wäre, folgte er Marcolini gesittet zum Ausgang.
Der Commendatore öffnete die Tür und trat beiseite, um Brunetti vorbeizulassen. Als der Ältere eine Hand hob, ahnte Brunetti, daß er ihm jeden Moment auf die Schulter klopfen oder seinen Arm tätscheln würde. Eine Vorstellung, bei der er schier in Panik geriet; allein der Gedanke war ihm unerträglich. Also beschleunigte er seine Schritte, schlüpfte in zwei Sätzen an Marcolini vorbei und mimte, als er sich wieder umdrehte, Erstaunen darüber, den Alten abgehängt zu haben.
»Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, Signore«, wiederholte Brunetti und rang sich ein letztes Lächeln ab.
»Nichts zu danken«, versicherte Marcolini. Er wippte auf den Absätzen und verschränkte die Arme über der Brust. »Freue mich immer, wenn ich der Polizei behilflich sein kann.«
Brunetti, der einen metallischen Geschmack im Mund hatte, murmelte irgend etwas, das nicht einmal er selbst verstand, und entfernte sich.
23
K aum, daß er ins Freie trat, fiel ein Chor von Furien über Brunetti her, die ihm zuraunten: »Achtzehn Monate, achtzehn Monate, achtzehn Monate!« So lange hatten die Pedrollis den kleinen Alfredo gehabt. Und dann, nach anderthalb Jahren, hatte Bianca Marcolini sich hinter ihren Vater gesteckt, um ihn wieder loszuwerden; als wäre er ein unerwünschtes Möbelstück oder ein defektes Küchengerät, das sie zurückgeben wollte.
Zu dem Zeitpunkt, als seine eigenen Kinder achtzehn Monate alt waren, hätte Paola ihm beichten können, daß sie einem Seitensprung mit dem Briefträger, dem Müllmann oder dem Gemeindepfarrer entstammten, ohne daß es seine Liebe zu den beiden geschmälert hätte. Brunetti blieb abrupt stehen: Jetzt war es ihm schon wieder passiert, daß er die ganze Welt nach seinen Erfahrungen beurteilte, als ob es keine anderen Maßstäbe zur Bewertung menschlichen Verhaltens gäbe.
Seufzend setzte er seinen Weg fort, aber sosehr er auch versuchte, seines inneren Aufruhrs Herr zu werden, es gelang ihm nicht. Vor lauter Grübeln wäre er am Eingang zur Questura beinahe mit Patta zusammengestoßen.
»Ah, Brunetti«, begrüßte ihn der Vice-Questore. »Eine Besprechung außer Haus gehabt, wie?«
Hastig setzte Brunetti eine Miene zerstreuter Geschäftigkeit auf. »Ja, Dottore, in der Tat. Aber ich will Sie nicht von der Ihren abhalten!« Was sonst hätte er, ohne unhöflich zu erscheinen, dazu sagen sollen, daß Patta sich zwei Stunden vor Dienstschluß auf den Heimweg machte?
Brunetti hielt es für das beste, Patta über seine jüngsten Schritte im dunkeln zu lassen; auf keinen Fall durfte er erfahren, daß sein Commissario soeben den Führer einer politischen Partei befragt hatte, deren Einfluß im Veneto stetig zunahm. Nach Pattas Ansicht hatten allein Bedienungen das Recht, Politikern Fragen zu stellen; alle anderen sollten sich stumm und devot zu Diensten halten.
»Um was ging's denn bei Ihrer Besprechung?« wollte Patta wissen.
Zum Glück fiel Brunetti ein, was Marquis de Custine über die Zollbeamten im Hafen von Sankt Petersburg geschrieben hatte. »Es gab da Beschwerden über den Hafen, genauer gesagt, über die Zollbeamten. Angeblich kassieren sie Schmiergelder und machen denen, die nicht zahlen wollen, Schwierigkeiten.«
»Aber das ist doch nichts Neues«, versetzte Patta ungeduldig, streifte seine Handschuhe über und wandte sich zum Gehen.
Im ersten Stock
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