Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Oberhemd modebewusster Geschäftsleute in den Schatten, und um den vollkommenen Faltenwurf seines Rocks hätte selbst Signorina Elettra ihn beneidet.
Während sie die Stufen vor dem Bahnhofsgebäude hinunterschritten und der Mullah gravitätisch nach links schwenkte, sagte Paola: »Wenn der keine Frau hätte, die sein Kostüm in Ordnung hält, müsste er sich seinen Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit verdienen.« Und als Brunetti zu bedenken gab, dass ihr multikulturelles Verständnis etwas zu wünschen übriglasse, entgegnete sie, die Hälfte aller Probleme und die meisten Gewalttaten wären aus der Welt geschafft, wenn die Männer ihre Wäsche selber bügeln müssten - »wobei Bügeln natürlich stellvertretend für alle Hausarbeiten steht«, setzte sie eilends hinzu.
Und wer hätte sie widerlegen können? Daheim hatte Brunetti, wie die meisten italienischen Männer, keinen Finger rühren müssen, weil seine Mutter den ganzen Haushalt allein bewältigte; was er als Kind zwar tagtäglich sah, aber nie richtig wahrnahm. Erst als er seinen Wehrdienst leistete, begriff er, dass weder sein Bett sich jeden Morgen von allein machte noch das Bad sich selber putzte. Später dann hatte er das Glück gehabt, eine Frau zu heiraten, die sich als große Verfechterin des Fairplay verstand und gern einräumte, dass ihre wenigen Lehrverpflichtungen ihr genügend Zeit ließen, einige Dinge im Haushalt selbst zu erledigen und diejenigen, zu denen sie keine Lust hatte, an eine Zugehfrau zu delegieren.
Sobald der Priester zwischen den Häusern auf der anderen Kanalseite verschwand, gab Brunetti sich einen Ruck und kehrte an den Schreibtisch zurück. Er beugte sich über das Schriftstück, das obenauf lag, doch bald schon glitten seine Gedanken so müßig dahin wie die Wolken über der San-Lorenzo-Kirche. Wer konnte über diese Sekte oder ihren Anführer Leonardo Mutti Bescheid wissen? Er überlegte, wer in der Questura Mitglied in einer Kirchengemeinschaft war, scheute aber davor zurück, Kollegen zu einem unfreiwilligen Bekenntnis zu verleiten. Stattdessen durchforschte er sein Gedächtnis nach irgendwelchen Bekannten, die als gläubig gelten konnten oder etwas mit der Kirche zu tun hatten, doch es wollte ihm kein einziger Name einfallen. Lag das nun an seiner eigenen Glaubensferne oder daran, dass er religiösen Menschen gegenüber intolerant war? Er griff zum Telefon und wählte seine Privatnummer. »Pronto«, meldete sich Paola beim vierten Klingeln. »Kennen wir irgendwelche religiösen Leute?« »Von Berufs wegen oder Gläubige?« »Beides.«
»Ich kenne ein paar Kirchenmänner, aber die würden wohl kaum mit einem wie dir reden.« Paola war nicht die Frau, seine Gefühle zu schonen. »Aber wenn du einen Gläubigen suchst, könntest du dich an meine Mutter wenden.«
Paolas Eltern waren in Hongkong gewesen, als Brunettis Mutter starb; er und Paola hatten sie nicht benachrichtigt oder heimgeholt, weil sie den beiden ihren vermeintlichen Urlaub nicht verderben wollten. Auf irgendeinem Wege hatten die Faliers trotzdem von Signora Brunettis Tod erfahren, waren aber erst am Morgen nach der Beerdigung eingetroffen. Brunetti hatte mit beiden gesprochen, und die Aufrichtigkeit ihres Mitgefühls und die Herzlichkeit, mit der sie es zum Ausdruck brachten, hatten sein Herz erwärmt.
»Ja, natürlich«, sagte Brunetti. »Wie konnte ich das nur vergessen!«
»Ich glaube, sie vergisst es manchmal selber«, entgegnete Paola und legte auf.
Auswendig wählte Brunetti die Nummer von Conte und Contessa Falier und bekam einen der Sekretäre des Grafen an den Apparat. Ein paar Minuten musste er warten, dann hörte er die Contessa sagen: »Wie nett, dass du anrufst, Guido. Was kann ich für dich tun?«
Glaubten etwa alle in seiner Familie, er interessiere sich bloß im Rahmen seiner Polizeiarbeit für sie? Einen Moment lang war er versucht, seiner Schwiegermutter vorzuflunkern, er habe nur angerufen, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und weil er wissen wollte, ob sie den Jetlag schon überwunden hätten. Aber er fürchtete, die Contessa würde den Schwindel durchschauen. »Ich hätte gern mit dir gesprochen«, antwortete er.
Erst nach Jahren hatte er sich ihr und dem Conte gegenüber zum familiären tu durchgerungen, aber es ging ihm noch immer nicht leicht über die Lippen. Bei der Contessa kostete es ihn jedoch weniger Überwindung, da er im Umgang mit ihr unbefangener war.
»Ja, worüber denn, Guido?«, fragte sie, hörbar
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