Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
hingegangen?«
»Aber nein!«, wehrte Antonin ab. »Roberto hat mich damals ja noch gar nicht gekannt.« Und nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Ich habe an dem Abend auch nicht mein Ordensgewand getragen.«
»Wie lange ist das jetzt her?« »Etwa drei Monate.«
»Von Geld war nicht die Rede?« »An dem Abend nicht, nein.«
»Bei anderer Gelegenheit aber schon?«
»Ja, bei meinem nächsten Besuch«, erwiderte Antonin, obwohl er soeben behauptet hatte, nur an einem einzigen Treffen teilgenommen zu haben. »Da rief dieser angebliche Bruder Leonardo die Versammlung auf, den Minderbegünstigten unter ihnen zu helfen. ›Minderbegünstigte‹, so hat er sie genannt, als wäre der Begriff ›Arme‹ eine Kränkung. Die Anwesenden müssen auf diesen Appell vorbereitet gewesen sein, denn einige hatten Kuverts dabei, die sie wie auf ein Stichwort hervorzogen und nach vorn durchreichten.«
»Und wie hat er darauf reagiert?«, fragte Brunetti, in dem sich jetzt echte Neugier regte.
»Er schien angenehm überrascht, obwohl das auch nur Schau gewesen sein kann.«
»Läuft das bei allen Treffen so ab?«, erkundigte sich Brunetti.
Antonin hob eine Hand in die Luft. »Ich habe nur noch an einem weiteren teilgenommen. Da war es allerdings genauso, ja.«
»Verstehe, verstehe«, murmelte Brunetti. »Und der Sohn deiner Freundin, geht der weiterhin zu diesen Treffen?« »0 ja. Patrizia beschwert sich andauernd darüber.« Ohne auf den anklagenden Ton einzugehen, fragte Brunetti: »Kannst du mir mehr über diesen Bruder Leonardo sagen?« »Er heißt mit Nachnamen Mutti, und das Mutterhaus seines angeblichen Ordens soll in Umbrien liegen.« »Weißt du, ob der Orden in irgendeiner Verbindung zur Kirche steht?«
»Du meinst die katholische Kirche?«, fragte Antonin. »Ja.« »Nein, auf keinen Fall.« Die Antwort klang so entschieden, dass Brunetti nicht weiter nachhakte.
Nach längerem Schweigen fragte der Commissario: »Und was genau erwartest du jetzt von mir?« »Ich möchte wissen, wer dieser Mann ist und ob er wirklich ein Mönch oder Ordensbruder ist, wie er behauptet.« Brunetti behielt sein Erstaunen darüber, dass der Priester diese Nachforschungen delegieren wollte, für sich: Hätte jemand, der sozusagen aus der Branche stammte, solche Informationen nicht viel leichter selbst beschaffen können? »Hat die Gruppe auch einen Namen?«
»Die Kinder ]esu Christi.«
»Wo genau bei San Giacomo treffen sie sich denn?« »Kennst du das Restaurant rechts von der Kirche?« »Das mit den Tischen im Freien?« »Ja. In dem Cafe neben dem Restaurant ist es die erste Tür links. Auf dem Klingelschild steht Sambo.«
Brunetti notierte sich diese Angaben auf der Rückseite eines Umschlags, der auf seinem Schreibtisch lag. Der Mann hatte den Sarg seiner Mutter mit Weihwasser besprengt, hatte ihr in ihren letzten Tagen beigestanden, und darum fühlte Brunetti sich in seiner Schuld. »Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte er und erhob sich.
Antonin stand ebenfalls auf und streckte die Hand aus. Brunetti ergriff sie, war aber eingedenk der Fingernägel des Priesters froh, dass es nur zu einem kurzen und flüchtigen Händedruck kam. Er brachte Antonin zur Tür und sah ihm vom Treppenabsatz aus nach, wie er die Stufen hinunterstieg und aus seinem Blickfeld verschwand.
5
B runetti ging zurück in sein Büro, aber statt hinter dem Schreibtisch Platz zu nehmen, bezog er Posten am Fenster. Nach wenigen Minuten erschien zwei Stockwerke tiefer, und selbst aus diesem spitzen Winkel an seinem langen schwarzen Talar leicht zu erkennen, der Priester am Fuß der Brücke zum Campo San Lorenzo. Wie der Padre mit beiden Händen seine Röcke raffte, während er langsam die Brücke erklomm, erinnerte er Brunetti an das umständliche Getue seiner Großmutter mit ihrer Schürze. Auf dem Scheitel der Brücke angekommen, ließ Antonin den Saum seines Gewandes fallen, legte eine Hand auf die Brüstung und blieb eine Weile so stehen.
Bestimmt würde sein bodenlanger Rock die Feuchtigkeit, die sich am Morgen auf der Brücke niedergeschlagen hatte, aufsaugen und unangenehm klamm werden. Während Brunetti den Priester auf der anderen Seite der Brücke zum Campo hinunterschreiten sah, fiel ihm ein, was Paola einmal nach einer Bahnfahrt von Padua nach Venedig über den langgewandeten Mullah geäußert hatte, der ihnen gegenübersaß und während der ganzen Reise mit seinen Gebetsperlen beschäftigt war. Sein blütenweißer Kaftan stellte jedes
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