Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
interessiert.
»Religion«, erwiderte er in der Hoffnung, sie zu überraschen.
Ihre Antwort ließ lange auf sich warten, doch endlich versetzte sie in zwanglosem Plauderton: »Ach, ausgerechnet du - wer hätte das gedacht.« Und dann Schweigen.
»Es hat mit einer Ermittlung zu tun«, erklärte er hastig, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Sie lachte. »Mein Gott, das brauchst du mir nicht eigens zu sagen, Guido.« Ihre Stimme verschwand einen Moment lang, so als hätte sie die Hörmuschel abgedeckt. Dann war sie wieder da: »Es ist gerade jemand bei mir, aber wenn's dir passt, könntest du in einer Stunde vorbeikommen.«
»Ja, sicher«, sagte er, froh über die Gelegenheit, dem Büro zu entfliehen. »Ich komme.«
»Schön«, antwortete sie, offenbar ehrlich erfreut, und legte auf.
Er hätte bleiben und den Papierkram erledigen, Akten abzeichnen und die Unterlagen durchgehen können, die sich mit jeder neuen Verbrechenswelle über seinen Schreibtisch wälzten. Stattdessen verließ er die Questura und begab sich auf die Riva degli Schiavoni, mitten in Pracht und Herrlichkeit.
Eine Fähre fuhr vorbei, und während er die Laster an Bord betrachtete, fand er es nicht einmal ungewöhnlich, dass Lieferwagen mit Tiefkühlgemüse oder Mineralwasser oder auch Käse und Milch in ihrer Zustellroute auf ein Fährschiff angewiesen waren.
Ein Pulk Touristen kam die Kirchenstufen herunter und umzingelte ihn kurz, bevor der Kultursog sie Richtung Schifffahrtsmuseum und Arsenale davontrug. Brunetti, der inmitten der wogenden Menge in eine Flaute geraten war, schaukelte noch ein paar Sekunden in ihrem Kielwasser und setzte dann seinen Weg zur Basilika fort.
Zu seiner Linken sah er einen Metallpfosten, an dem die Boote derer anlegten, die sich die Ankergebühr leisten konnten und mit ihren Yachten all jenen die Sicht auf San Giorgio versperrten, die in den Häusern rechts von ihm die unteren Stockwerke bewohnten. Da gerade kein Boot vor Anker lag, setzte Brunetti sich auf den Pfosten und genoss den Ausblick auf die Kirche, den Engel und den prächtigen Kuppelreigen drüben, am anderen Ufer des Giudecca-Kanals. Er lehnte sich zurück, schlang die Finger um den Metallknauf, genoss die Wärme, die er abstrahlte, und sah den Booten zu, die auf den beiden Kanälen verkehrten, zwischen die sich die Landzunge mit der SaluteKirche schob.
Bald schon brannte die Sonne so heiß durch seine dunkelgraue Hose, dass seine Oberschenkel förmlich zu glühen schienen. Abrupt stand er auf, schüttelte die Hitze aus den Hosenbeinen und setzte seinen Weg zur Piazza fort.
Im Cafe Florian trank er hinten an der Bar einen Espresso und nickte einem Kellner zu, dessen Name ihm nicht einfiel. Da es bereits nach elf war, hätte er sich auch schon un'ombra genehmigen können, doch wenn er nachher in den Palazzo der Schwiegereltern kam, wollte er lieber nach Kaffee als nach Wein riechen. Er zahlte und ging. Während er auf der Schwelle einen Moment innehielt, um sich für den Sprung in den Touristenstrom zu rüsten, fiel ihm der Golfstrom ein und wie oft seine Tochter davor warnte, dass er versiegen könne. Neben Paolas Verehrung für ihren Hausgott Henry James war Chiaras ökologisches Engagement das Äußerste an Religionsersatz, was seine Familie zu bieten hatte.
Mitunter erschreckte der stoische Gleichmut der Gesellschaft angesichts sich häufender Belege für Klimawandel und Erderwärmung auch Brunetti: Er und Paola hatten immerhin noch viele gute Jahre erlebt, aber wenn auch nur ein Teil dessen, was Chiara sich angelesen hatte, zutraf - welche Zukunft war seinen Kindern dann noch beschieden? Ja, was für eine Zukunft stand ihnen allen bevor? Und warum ließen sich nur so wenige von der zunehmend düsteren Nachrichtenlage aus der Ruhe bringen? Aber dann schweifte sein Blick nach rechts, und die Fassade des Markusdoms verscheuchte alle pessimistischen Gedanken.
Von der Vaporetto-Station Vallaresso fuhr er mit der Linie 1 bis Ca' Rezzonico und ging von dort zu Fuß zum Campo San Barnaba. Die Stunde Wartefrist war inzwischen glücklich vertrödelt. Brunetti betätigte die Klingel neben dem partane, und bald schon näherten sich Schritte über den Hof. Das mächtige Tor schwang auf, und er trat ein. Luciana, die länger bei den Faliers in Diensten stand, als er seine Schwiegereltern kannte, hatte ihn eingelassen. Konnte es sein, dass sie seit ihrer letzten Begegnung - wie lange war das her, etwas über ein Jahr vielleicht - so sehr
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