Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Jahre war er auf der Flucht, und dann schnappen sie ihn zwei Kilometer von seinem Wohnort entfernt.« Brunetti hob die Hand und ließ sie resigniert auf die Zeitung niederklatschen. »Dreiundvierzig Jahre, und die Politiker überschütten die Polizei mit Lobeshymnen. Ein Triumph!«
»Womöglich war ja mit dem Triumph die Mafia gemeint«, mutmaßte Paola. »Ach, es wäre alles so viel einfacher, wenn die gleich ihren eigenen Minister stellen dürften.« Nachdenklich hielt sie inne und fragte dann: »Bloß, wie sollte man den nennen? Schattenminister? Erpressungsminister?«
Sie stellte die Tassen auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Wider besseres Wissen fragte Brunetti: »Warum glaubst du, dass sie den nicht längst haben?« »Wen?« »Na, ihren eigenen Minister.«
Erschrocken sah sie ihn an, als ihr klar wurde, dass sie eben etwas gehört hatte, was er nicht hätte sagen dürfen. Paolas beredtes Schweigen zwang ihn schließlich zum Sprechen. »Es kursieren Gerüchte«, sagte er und griff nach seiner Tasse. »Gerüchte?«
Brunetti nickte, ohne sie anzusehen, und nippte angelegentlich an seinem Kaffee.
Paola erkannte darin das Zeichen für einen dringend erwünschten Themenwechsel und fragte: »Was hattest du denn mit meiner Mutter zu besprechen?«
»Dieser Jugendfreund von Sergio - der Priester, der zur Beerdigung kam: Antonin Scallon -, er hat mich gebeten, jemanden zu überprüfen.«
»Arbeitest du jetzt für Opus Dei, Guido?«, fragte sie mit gespieltem Entsetzen.
Es dauerte ein paar Minuten, ihr Antonins Besuch und dessen Zweck zu erläutern, und währenddessen wurde ihm bewusst, wie unwohl er sich mit der Geschichte fühlte. Irgendetwas dar an vertrug sich weder mit seiner Erinnerung an Antonin noch mit seinem Instinkt: Die angeblichen Beweggründe der Beteiligten erschienen ihm ebenso wenig glaubhaft wie die des Priesters für seinen Besuch bei ihm.
»Meinst du, Antonin hat was mit der Mutter dieses jungen Mannes?«, fragte Paola, als Brunetti ihr Scallons Version getreu wiedergegeben hatte.
»Das sieht dir ähnlich, einem Geistlichen an die Gurgel zu gehen«, sagte Brunetti nicht ohne Bewunderung.
»Ich glaube nicht, dass seine Gurgel was damit zu tun hat«, versetzte Paola und griff nach ihrer Kaffeetasse.
Brunetti musste grinsen. Statt des Obstes hätte er jetzt gern einen Grappa oder einen Cognac gehabt. »Gedacht habe ich an diese Möglichkeit schon auch«, gab er zu.
»Immerhin hat der arme Teufel zwanzig Jahre in Afrika verbracht.«
Paola hakte sofort ein: »Willst du damit sagen, im Umgang mit den niederen Rassen und ihrem Hang zu sexuellen Ausschweifungen musste er zum triebgesteuerten Lüstling mutieren?«
Brunetti lachte. Es amüsierte ihn, wie hartnäckig sie ihm immer wieder eine denkbar schlechte Meinung von der menschlichen Natur unterstellte. Auch wenn es sie inzwischen Überwindung kostete, den Vertretern der politischen Linken ihre Stimme zu geben, funktionierte Paolas Beschützerinstinkt gegenüber sozial Benachteiligten noch immer, und das freute ihn. »Ganz im Gegenteil! Ich vermute, er hat sich den Afrikanern so überlegen gefühlt, dass er keine näheren Beziehungen einging und folglich bei seiner Rückkehr der erstbesten Europäerin nachstieg, die ihm Beachtung schenkte.« »Und das Zölibat?«
Wissend, dass sie es wusste, antwortete Brunetti: »Zölibat hat nichts mit Keuschheit zu tun, das brauche ich dir doch nicht zu sagen. Ihr Gelübde verpflichtet die Priester nur zur Ehelosigkeit - in der Praxis legen die meisten das dann sehr großzügig aus.«
Brunetti lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nach einer Weile hörte er, wie Paola ihre Tasse auf den Tisch stellte. »Hältst du es für möglich, dass er die Wahrheit sagt und wirklich Angst hat, man könnte diesem jungen Mann sein Geld und seine Wohnung abschwindeln?«, fragte sie. »Wie kommst du darauf?« »Weil er gut zu deiner Mutter war, Guido.«
Verblüfft wandte Brunetti sich ihr zu. »Woher weißt du das?«
»Die Schwestern in der Klinik haben's mir erzählt. Und einmal, als ich sie besuchte, habe ich ihn dort getroffen. Er hielt ihre Hand, und sie sah sehr glücklich aus.«
Nach einer langen Pause entgegnete Brunetti widerstrebend: »Denkbar wäre es.« Doch statt sich näher mit dieser Möglichkeit zu befassen und weil er bald wieder fortmusste, kam er auf sein Dilemma vom Vormittag zu sprechen. »Stell dir vor, mir ist unter all meinen Bekannten keiner eingefallen, der sich freimütig zu seinem
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