Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Kinderaugen blickten aus einem Asketengesicht, als der Pfarrer zu Brunetti aufsah und sich, die Hände auf die Armlehnen gestützt, zu erheben versuchte.
»Nicht doch, Padre, bitte bleiben Sie sitzen.« Ehe der alte Priester sich aus dem Sessel hieven konnte, eilte Brunetti hinzu, beugte sich vor und streckte ihm die Hand entgegen.
»Sehr erfreut, mein Sohn. Wie nett von Ihnen, dass Sie einen alten Mann besuchen kommen.« Padre Stefano hatte eine wohltönende, helle Tenorstimme, und er sprach Veneziano. Brunetti fasste die pergamentene Hand so behutsam, als fürchte er, sie zu zerdrücken.
Der parroco war wohl einst ein hochgewachsener Mann gewesen. Brunetti schloss das aus den Handgelenksknochen und der Spanne zwischen Fußknöchel und Knie. Das schwarze Skapulier über dem bodenlangen weißen Ordenskleid des Priesters war ganz verschlissen vom Alter und vom vielen Waschen. An einem der schwarzen Lederpantoffeln hatte sich die Sohle gelöst und hing schlaff wie eine Katzenzunge herunter.
»Aber bitte, setzen Sie sich doch!« Der Priester blickte verwirrt um sich, so als merke er jetzt erst, wo er sich befand, und suche verzweifelt nach einem Stuhl für seinen Gast.
Brunetti fand einen schweren hölzernen Lehnstuhl mit zerschlissenem Gobelinbezug und trug ihn herbei. Er setzte sich und lächelte den Pfarrer an, der sich vorbeugte und über die kurze Distanz hinweg Brunettis Knie tätschelte. »Wie schön, dass Sie gekommen sind, mein Sohn. Wie schön, dass Sie mich besuchen.« Nachdem er dieses Wunder eine Weile bestaunt hatte, fragte er: »Sind Sie gekommen, damit ich Ihnen die Beichte abnehme, mein Sohn?«
Lächelnd schüttelte Brunetti den Kopf. »Danke, Padre, nein danke.« Doch als er den Blick des Alten auffing, setzte er mit erhobener Stimme hinzu: »Ich habe schon gebeichtet, Padre. Aber es ist sehr gütig von Ihnen, dass Sie danach fragen.« Schließlich hatte er seine Beichte abgelegt, oder etwa nicht? Wie lange das her war, brauchte er diesem alten Mann ja nun wirklich nicht zu sagen.
Die Miene des Priesters erhellte sich. »Was kann ich denn dann für Sie tun?«, fragte er.
»Ich möchte mich nach Ihrem Gast erkundigen.« »Gast?«, wiederholte der alte Mann, so als sei er nicht sicher, ob er das Wort oder seine Bedeutung richtig erfasst habe. Sein Blick glitt über Brunettis Schulter und schweifte suchend durch den Raum. Ein Gast?
»Ja, ganz recht. Padre Antonin Scallon.«
Der Gesichtsausdruck des Priesters veränderte sich; vielleicht war es nicht mehr als eine Straffung der Mundwinkel, eine Trübung des Blicks. »Padre Scallon?«, fragte er.
Dass er es nicht über sich brachte, seinen Gast beim Vornamen zu nennen, bestätigte Brunetti in all seinen Vorbehalten. Trotzdem tat er so, als ob ihm an der Reaktion des Priesters nichts aufgefallen wäre: »Ja, er kam nämlich letzte Woche zur Beerdigung meiner Mutter, und dafür wollte ich ihm danken.« Erst während er die Reaktion des Alten auf seinen arglosen Ton prüfte, fiel ihm auf, wie ohrenbetäubend laut er gesprochen hatte. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, fügte Brunetti noch hinzu: »Also, meine Frau hat gemeint, ich solle mich bei ihm bedanken.«
»Und wenn Ihre Frau Sie nicht geschickt hätte?« Brunetti, der anfangs den Verstand des alten Mannes schon so schwach eingeschätzt hatte wie sein Gehör, sah sich durch die scharfsinnige Frage eines Besseren belehrt. Er überspielte seine Verlegenheit mit einem leichten Achselzucken. Eine Geste, die ihm im Nachhinein so ungehobelt erschien, dass er zu einer Erklärung ansetzte: »Es gehört sich so, Padre. Er ist immerhin mit meinem Bruder zur Schule gegangen, da sollte ihm schon jemand aus der Familie danken.«
»Und Ihr Bruder?«, forschte der alte Mann.
»Der war leider verhindert«, erwiderte Brunetti mit einer Miene, die kein Wässerchen trüben konnte. »Darum hat er mich gebeten.«
»So, so«, murmelte der Priester, den Blick auf die Hände in seinem Schoß gesenkt. Brunetti bemerkte erst jetzt, dass er in einer Hand einen Rosenkranz hielt. Als Padre Stefano wieder aufsah, fragte er: »Hatten Sie bei der Trauerfeier denn keine Gelegenheit dazu?«
»Nun ja, da waren wir alle ... wie soll ich es ausdrücken? Wir waren sehr aufgewühlt, und so kam es, dass wir erst bei meinem Bruder zu Hause feststellten, dass keiner daran gedacht hatte, ihn einzuladen.«
»Aber verstand sich das denn nicht von selbst, wenn er doch die Trauermesse gelesen hat?«, fragte der alte
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