Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
sicher, sie hat was für sich.«
Früher, am Beginn ihrer Bekanntschaft, war es Brunetti so vorgekommen, als hätte die Contessa nicht nur oftmals Mühe, den Reden anderer zu folgen, sondern sei sich auch über die eigenen Äußerungen vielfach nicht im Klaren. überzeugt von seinem jugendlichen Scharfsinn, hatte er sie damals rasch zu durchschauen geglaubt und als frivole Gesellschaftsdame abgetan, zu deren Gunsten lediglich ihre liebevolle Hingabe an Mann und Tochter sprach. Erst als es im Lauf der Jahre immer wieder vorkam, dass Außenstehende sie genauso einschätzten wie er, begann Brunetti ihr aufmerksamer zuzuhören und entdeckte - durch abgedroschene Klischees und Verallgemeinerungen getarnt - so messerscharfe und tiefgründige Beobachtungen, dass es ihm den Atem verschlug. Mittlerweile hatte sie allerdings ihre Verstellungskunst derart perfektioniert, dass kaum mehr jemand sie zu demaskieren versuchte oder auch nur auf die Idee kam, dass es da etwas zu demaskieren gab.
»Möchtest du nicht doch etwas trinken?«, fragte die Contessa in Brunettis Gedanken hinein.
Er sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. »Nein danke, wirklich nicht. Ich gehe jetzt lieber nach Hause: Es ist Zeit zum Mittagessen.« »Welch ein Glück für Paola, dass du hier in der Stadt arbeitest, Guido. So hat sie immer jemanden, den sie bekochen kann.« Ihr wehmütiger Tonfall hätte einen glauben machen können, sie wünsche sich nichts sehnlicher, als tagtäglich im Dienste ihrer Lieben am Herd zu stehen, ja dass sie jede freie Stunde über Kochbüchern brüte, um die Familie mit neuen Rezepten zu verwöhnen. Dabei war Brunetti überzeugt, dass die Contessa seit Jahren keinen Fuß mehr in die Küche gesetzt hatte. An deren Betreten Luciana sie wahrscheinlich sowieso gehindert hätte.
Er erhob sich und sie ebenfalls. Während die Contessa ihn zur Tür begleitete, trug sie ihm Grüße an Paola und die Kinder auf. Brunetti bückte sich und küsste sie zum Abschied. »Du hörst von mir, sobald ich etwas in Erfahrung bringe«, versprach sie, und er ging heim zum Mittagessen.
6
A uf dem letzten Treppenabsatz unterhalb ihrer Wohnung stiegen Brunetti immer noch keine Essensdüfte in die Nase. Falls Paola aus irgendeinem Grund nicht zum Kochen gekommen war, könnten sie vielleicht in ein Restaurant gehen. Keine zwei Minuten entfernt bot das Antico Panificio mittags Pizza an, und obwohl er die normalerweise lieber abends aß, war Brunetti heute durchaus geneigt, eine Ausnahme zu machen. Pizza mit Rucola und Speck wäre nicht schlecht oder die mit mozzarella di bufala und pomodorini. Während er die letzten Stufen erklomm, variierte Brunetti den Belag seiner Phantasiepizza eifrig weiter, und als er den Schlüssel ins Schloss steckte, war er bei Rucola, Pfeffersalami und Champignons angelangt, ohne zu wissen, woher ihm die letzten beiden Zutaten zugeflogen waren.
Doch jeder Gedanke an Pizza verflüchtigte sich, als er die Wohnungstür öffnete und Paola mit einer riesigen Salatschüssel im Wohnzimmer verschwinden sah. Offenbar hatte eins der Kinder in einem Anfall von selbstmörderischem Optimismus beschlossen, dass sie auf der Terrasse essen sollten. Ohne auch nur die Tür hinter sich zu schließen, sauste Brunetti mit drei Schritten den Flur entlang, steckte den Kopf ins Wohnzimmer und rief den dreien, die schon draußen saßen und ihn erwarteten, zu: »Mein Stuhl kommt in die Sonne!« Jetzt im Frühling bekam die große Terrasse nur über Mittag zwei Stunden Sonne, die noch dazu lediglich einen schmalen Streifen am Ende der Terrasse erreichte.
Dort war bloß für einen Stuhl Platz, den Brunetti, der es für ausgemachten Schwachsinn hielt, so früh im Jahr draußen zu essen, regelmäßig in Beschlag nahm.
Nachdem er auch diesmal seinen Anspruch geltend gemacht hatte, ging er zurück und schloss die Wohnungstür. Von der Terrasse klangen scharrende Geräusche herüber. Hier ins Wohnzimmer hatte fast den ganzen Vormittag die Sonne geschienen.
Sein Stuhl, dessen Rückenlehne von der Sonne erwärmt wurde, befand sich am Kopfende des Tisches. Auf dem Weg dorthin tätschelte Brunetti seiner Tochter die Schulter. Chiara trug einen dünnen Pulli, Raffi nur ein Baumwollhemd. Paola hatte über ihren Pullover immerhin noch eine Daunenweste gezogen, die wohl eigentlich Raffi gehörte. Wie war es nur möglich, dass so verfrorene Eltern wie er und Paola diese beiden tropischen Geschöpfe gezeugt hatten?
Brunetti genoss die Wärme auf seinem Rücken.
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