Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Brunettis Mutter hatte sich den Ansichten ihres Mannes nie widersetzt, so wie sie auch nie ein gutes Wort über den Klerus verloren hatte - und das, obwohl sie sonst an fast allen Menschen irgendetwas Gutes entdeckte, einmal sogar an einem Politiker. Begleitet von solchen Gedanken und Erinnerungen kehrte Brunetti an seinen Arbeitsplatz zurück.
Auf seinem Schreibtisch in der Questura fand der Commissario die schon mit Bangen erwartete Hiobsbotschaft vor, die Vice-Questore Giuseppe Patta als Ertrag seiner Berliner Konferenz formuliert und wohl telefonisch aus seiner Suite im Adlon übermittelt hatte: Ihre wöchentliche Schulung zur Kriminalitätskontrolle würde sich nächste Woche der Mafia widmen, höchstwahrscheinlich mit der Maßgabe, sie mit Stumpf und Stiel auszurotten - ein Ziel, an dem man sich in Italien schon seit über hundert Jahren die Zähne ausbiss. Pattas Nachricht war vermutlich auf dem Umweg über Signorina Elettras Hotel in Abano Terme als Mail in die Questura gelangt:
Wir befinden uns im Kriegszustand mit der Mafia, die als Staat im Staat zu betrachten ist.
Sämtliche Einheiten sind zu mobilisieren.
Optimale Koordinierung aller Bevollmächtigten unter besonderer Berücksichtigung folgender Punkte:
1. Verbindungsmann ernennen.
2. Innenministerium, Carabinieri sowie Guardia di Finanza vernetzen und Kontakte pflegen.
3. Sonderfinanzierung gemäß Artikel 41 beantragen.
4. Interkulturelle Dynamik forcieren.
Hier stockte Brunetti. Was genau hatte man sich unter »interkultureller Dynamik« vorzustellen? Zwar wusste er aus leidvoller Erfahrung, dass man auf Sizilien eine andere Sicht der Dinge vertrat als hier im Veneto, doch um diese Kluft zu überbrücken, war wohl kaum ein interkulturelles Was-auch-immer vonnöten. Aber bei der Aussicht auf Sonderfinanzierung hatte Patta natürlich gleich wieder seinen Vorteil gewittert. Als Nächstes widmete sich Brunetti dem Stapel von Protokollen und Zeugenaussagen zu einer Messerstecherei, die sich in der letzten Woche vor einer Bar an der Riva della Giudecca zugetragen hatte. Der Kampf endete für beide Kontrahenten im Krankenhaus: Dem einen hatte ein Fischschupper die Lunge durchbohrt, und der andere drohte auf Grund einer Verletzung, die vom selben Tatwerkzeug herrührte, ein Auge zu verlieren.
Vier Zeugen hatten übereinstimmend ausgesagt, während eines Streits habe einer der zwei Beteiligten das Messer gezückt, zu gestochen und es dann fallen lassen, woraufhin sein Gegner es aufhob und seinerseits zustach. Aber bei der Frage, wem das Messer gehörte, wer es als Erster benutzt habe und wie der Kampf im Einzelnen verlaufen sei, deckten die Aussagen sich nicht mehr. Der Bruder und der Cousin eines der beiden Widersacher waren in der Bar gewesen, als der Streit ausbrach, und behaupteten, der andere sei auf ihn losgegangen, während dessen Schwager und Freund versicherten, jener sei ganz ohne eigenes Zutun attackiert worden. So sprachen beidseits sie der Wahrheit Hohn ... Auf dem Griff des Messers wurden Fingerabdrücke, an der Schneide Blutspuren von beiden Männern sichergestellt. Sechs weitere Gäste der Bar, allesamt Giudeccaner, konnten sich nicht erinnern, irgendetwas gehört oder gesehen zu haben, und die beiden albanischen Gastarbeiter, die auf ein Bier hereingeschaut hatten, waren nach der ersten Befragung verschwunden, bevor man ihre Papiere kontrollieren konnte.
Kopfschüttelnd verweilte Brunetti über den letzten Seiten der Vernehmungsprotokolle: Verblüffend, wie sehr die kulturelle Dynamik auf der Giudecca der auf Sizilien glich!
Als er aufblickte, stand Vianello in der Tür. »Hast du was über diese Messerstecherei gehört?«, fragte Brunetti und wedelte mit den Seiten des Protokolls, zum Zeichen, dass Vianello sich setzen solle.
»Du meinst diese beiden Idioten, die sich gegenseitig krankenhausreif gemetzelt haben?« »Ja.«
»Einer von denen war in Porto Marghera als Hafenarbeiter beschäftigt. Hat Frachtschiffe entladen, aber wie ich hörte, mussten sie ihn entlassen.« »Weshalb?«, fragte Brunetti.
»Das übliche: Zu viel Alkohol bei zu wenig Grips, und außerdem zu viel Warenschwund auf seiner Schicht.« »Welcher von beiden ist denn das?«
»Der, der ein Auge verloren hat«, antwortete Vianello. »Ein gewisser Carlo Ruffo. Ich bin ihm mal begegnet.« »Bist du sicher?«, fragte Brunetti. Das medizinische Gutachten in der Akte hatte das Auge nur als gefährdet eingestuft. »Ich meine, was das Auge angeht.«
»Glaub'
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