Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Und als Vianello nicht reagierte, half er nach: »Na, was meinst du?«
Vianello sah ihm in die Augen und antwortete: »Wenn wir da hingehen, sollten wir unsere Frauen mitnehmen.« Und bevor Brunetti Einspruch erheben konnte, fügte der Ispettore hinzu: »Männer wirken immer harmlos, wenn sie in weiblicher Begleitung sind.«
Brunetti wandte sich ab, damit Vianello sein Grinsen nicht mitbekam. Draußen vor der Bar fragte er: »Und du glaubst, du könntest Nadia dazu überreden?« »Wenn ich vorher das Brotmesser verstecke.«
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I nformationen über die Treffen der religiösen Vereinigung, der Leonardo Mutti vorstand, waren weit schwieriger zu beschaffen, als Brunetti gedacht hatte. Antonin wollte er nicht in seine Recherchen einweihen, im Telefonbuch standen Die Kinder ]esu Christi nicht, und mit seinen bescheidenen Computerkenntnissen fand der Commissario auch keine Webseite. Als er sich bei den uniformierten Beamten umhörte, wusste Piantoni als Einziger etwas beizusteuern, weil ein Cousin von ihm einer ähnlichen Gemeinschaft beigetreten war.
Schließlich blieb Brunetti nichts weiter übrig, als das Haus am Campo San Giacomo dell'Orio aufzusuchen, das der Gruppe als Treffpunkt diente - eine Aussicht, die ihn so verstimmte, als befände sich der campo sonst wo und nicht bloße zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt. Wie seltsam, dass manche Gegenden der Stadt einem so fern vorkamen, während es zu anderen, die in Wahrheit viel weiter weg lagen, nur ein Katzensprung zu sein schien. Brunetti etwa empfand schon den Gedanken an eine Fahrt zur Giudecca als Strapaze. Aber San Pietro di Castello, wohin er je nach Bootsfahrplan fast eine halbe Stunde brauchte, lag für ihn gleich um die Ecke. Vielleicht war es eine Frage der Gewohnheit, dass ihm Orte, an denen er schon als Junge gespielt hatte oder wo seine Freunde wohnten, näher erschienen. In Bezug auf San Giacomo delI' Orio musste der Polizist in ihm zugeben, dass seine Abneigung womöglich damit zusammenhing, dass hier früher angeblich freizügig mit Drogen gehandelt worden war und die Anwohner seinerzeit nicht nur als arm galten, sondern auch häufiger mit dem Gesetz in Konflikt gerieten als die Bürger in anderen Stadtteilen.
Die Drogendealer waren inzwischen verschwunden (zumindest glaubte das die Polizei), und mit ihnen hatten viele der früheren Bewohner die Gegend verlassen und einer gutbetuchten Klientel Platz gemacht, die aber nicht aus Venedig stammte. Zwei volle Tage ließ Brunetti verstreichen, bevor er sich - halb belustigt, halb beschämt, weil er so eine Staatsaktion daraus machte - endlich doch zu seinem Erkundungsgang aufraffte.
Da er keinen Grund zur Eile sah, beschloss er, am Campo San Cassiano einen Blick auf Die Kreuzigung von Tintoretto zu werfen. Es hatte ihn immer schon beeindruckt, wie verdrossen dieser Christus dreinblickte, der so raffiniert hoch über dem Wald der aufgepflanzten Lanzen an seinem Kreuz drapiert war. Der Heiland schien endlich den Warnungen Glauben zu schenken, wonach bei dieser ganzen Geschichte mit der Menschwerdung nichts Gutes herauskommen würde; er sah aus, als könne er nicht schnell genug wieder aufs Gottsein umsatteln.
Brunettis Blick wanderte zu den Kreuzwegstationen an der anderen Wand, wo der tote Christus bei der Kreuzabnahme aussah, als stelle er sich nur schlafend und werde jeden Moment quicklebendig aufspringen und Überraschung! rufen. Anscheinend hatten nur ganz wenige Maler die Toten aufmerksam genug studiert, um ihre entsetzliche Wehrlosigkeit zu erkennen. Brunetti dagegen war immer wieder betroffen von der Hilflosigkeit der Toten, die sich mit ihren starren Gliedern und steifen Fingern nicht mehr zur Wehr setzen, ja nicht einmal mehr ihre Blöße bedecken konnten.
Als er nach einer Weile wieder ins Freie kam, legten sich die Sonnenstrahlen wie ein Segen auf seine Schultern. Am Campo Santa Maria Mater Domini spähte er durch ein Fenster nach der Treppe zu jener Wohnung, die sie als Frischvermählte besichtigt und, eingeschüchtert von ihrer Größe, von der Miete ganz zu schweigen, fluchtartig wieder verlassen hatten.
Und weiter ging's der Nase nach: über den Ponte del Forner, vorbei an der einzig verbliebenen Werkstatt, wo man noch ein Bügeleisen repariert bekam, und dann auf den Campo San Giacomo dell'Orio. Er vergewisserte sich, dass ihm noch Zeit blieb für einen Blick in die Kirche, in der er seit Jahren nicht mehr gewesen war.
Gleich hinter dem Eingang rechts stieß er auf einen
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