Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Holzverschlag, der aussah wie ein Mauthäuschen in einem Kinderbuch. Darin saß, über ein Buch gebeugt, eine dunkelhaarige junge Frau. Rechts von dem Fenster, hinter dem sie ihren Platz hatte, hing eine Preisliste; eine rote Samtkordel versperrte den Zugang zum Kircheninnern.
»Zweifünfzig, bitte«, sagte sie, von ihrer Lektüre aufblickend.
»Gilt das auch für Ortsansässige?«, fragte Brunetti hörbar entrüstet. Das war schließlich eine Kirche!
»Die haben freien Eintritt«, beruhigte ihn die junge Frau. »Darf ich Ihre carta d'identita sehen?«
Ohne seine wachsende Irritation zu verbergen, zückte Brunetti die Brieftasche, klappte sie auf und tastete nach dem verlangten Ausweis. Doch dann fiel ihm ein, dass der ja zum Fotokopieren in der Questura war: Die Kopie brauchte er für sein Gesuch um Erneuerung seines Waffenscheins.
Also fischte er stattdessen den Dienstausweis aus der Brieftasche und schob ihn unter dem Schalter durch. »Was ist das?«, fragte sie. Ihre Stimme klang unvoreingenommen; sie hatte ein angenehmes, ja hübsches Gesicht. »Das ist mein Polizeiausweis. Ich bin Commissario.« »Tut mir leid«, entgegnete sie mit der Andeutung eines Lächelns, »aber Sie brauchen eine carta d'identita.« Damit schob sie ihm den Ausweis wieder zu und ergänzte, den Blick abermals auf ihn gerichtet: »Und zwar eine gültige.«
Jahrelang hatte sich Brunetti, wann immer er vor Pattas Schreibtisch zitiert wurde, darin geübt, verkehrt herum zu lesen. So entzifferte er jetzt mühelos den Titel am oberen Rand des aufgeschlagenen Buches: Washington Square. »Lesen Sie das für Ihr Studium?«, fragte er.
Völlig verwirrt wanderte ihr Blick von seinem Dienstausweis zu ihrer Lektüre. Doch dann begriff sie und nickte. »Ja, für ein Seminar über den amerikanischen Roman.«
»Aha!« Ohne ein weiteres Wort nahm Brunetti seinen Ausweis an sich und verstaute ihn mitsamt der Brieftasche in der Gesäßtasche. Eine Studentin aus dem Seminar seiner Frau!
Er kramte ein paar Münzen aus der Hosentasche und zählte das Eintrittsgeld ab. Mit einem gemurmelten »Grazie« schob die junge Frau ein Ticket unter dem Glasfenster durch und vertiefte sich wieder in ihre Lektüre.
»Prego«, antwortete er und schritt durch den Spalt in der Absperrung ins Kirchenschiff.
Zwanzig Minuten später trat er wieder ins Freie, umrundete die Kirche und hielt auf das Restaurant zu. Antonins Wegbeschreibung folgend, bog er linker Hand in die nächste calle ein, wo er gleich wieder links beim ersten Eingang die Namensschilder studierte. Und da stand es: »Sambo«, die zweite Klingel von unten.
Brunetti vergewisserte sich noch einmal, wie spät es war, und läutete dann. Nach einem kurzen Moment meldete sich eine Frauenstimme: »Si?«
Brunetti antwortete im venezianischen Dialekt. »Signora, können Sie mir sagen, ob ich hier richtig bin für die Treffen der Freunde von Bruder Leonardo?« Der beflissene Eifer in seiner Stimme konnte vielerlei Gründe haben.
»Ja, das ist hier«, bestätigte sie. »Hätten Sie Interesse daran, sich uns anzuschließen?« »Großes Interesse, Signora.«
»Wir treffen uns dienstags«, sagte sie und setzte rasch hinzu: »Sie müssen schon entschuldigen, wenn ich Sie nicht hereinbitte, aber es ist höchste Zeit, dass die Kinder ihr Essen bekommen.«
»Nein, nein, ich bin es, der sich entschuldigen muss, Signora«, wehrte Brunetti ab. »Ich weiß, wie das ist mit Kindern - also gehen Sie nur und kümmern sich ums Essen. Wenn Sie mir bloß noch rasch sagen würden, wann am Dienstag?«
»Um halb acht«, lautete die Antwort. »Damit die Teilnehmer zum Abendessen wieder zu Hause sind.«
»Verstehe«, erwiderte Brunetti. »Gut, und nun versorgen Sie Ihre Kinder, Signora. Bitte! Wir sehen uns dann am Dienstag«, schloss er so liebenswürdig er konnte.
Als er sich schon zum Gehen wandte, hörte er eine blecherne Stimme fragen: »Wie war bitte Ihr Name, Signore?« Er murmelte etwas Unverständliches, dem er allerdings ein »-etti« anhängte, denn er wollte nicht lügen. Und wenn, dann erst am Dienstag.
9
V ianello und Brunetti trafen sich am Dienstagabend um Viertel nach sieben vor der Banca di Roma. Beide in Begleitung ihrer Frauen, die zwar nicht gerade begeistert gewesen waren, aber immerhin neugierig genug, um sich anzuschließen.
Paola und Nadia tauschten Wangenküsse, bevor man zu viert dem Rialto den Rücken kehrte und den Weg nach San Giacomo dell'Orio antrat. Die Frauen blieben bald schon hinter
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