Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
zuletzt bei Signorina Elettra.
Mit der atemlosen Frage: »Haben Sie Vianello gesehen?«, platzte er grußlos in ihr Büro.
Signorina Elettra sah von ihrer Arbeit auf. Nach einer Pause, die sich etwas zu sehr in die Länge zog, sagte sie: »Ich glaube, er wartet in Ihrem Büro auf Sie, Commissario.« Und hatte sich schon wieder über die Papiere auf ihrem Schreibtisch gebeugt. Brunetti bedankte sich, doch sie gab keine Antwort. Erst auf der Treppe wurde ihm bewusst, wie schroff er gewesen und wie kühl sie ihn abgefertigt hatte. Doch jetzt war keine Zeit, die Scharte auszuwetzen.
Tatsächlich fand er Vianello in seinem Büro. Der Inspektor stand am Fenster und blickte auf den Kanal hinaus. Bevor Brunetti etwas sagen konnte, erklärte er: »Steiner hat angerufen. Er lässt ausrichten, das Boot sei eingetroffen und er werde in ein paar Minuten hier sein.«
Brunetti nahm es grummelnd zur Kenntnis, trat an seinen Schreibtisch und griff zum Telefon. Kaum dass Patta sich gemeldet hatte, legte er los: »Vice-Questore, hier spricht Brunetti. Die Carabinieri haben offenbar die Eltern des Mädchens ausfindig gemacht, das vorige Woche ertrunken ist .... Ja, ja, Dottore, die Zigeunerin«, bestätigte er. Wusste Patta vielleicht noch von anderen Mädchen, die in der letzten Woche ertrunken waren?
»Nun möchten die Carabinieri unbedingt jemanden von der Questura dabeihaben, wenn sie die Familie verständigen.« Brunetti gab sich alle Mühe, möglichst gereizt und missmutig zu klingen. Nachdem er einen Moment der Stimme in der Leitung gelauscht hatte, antwortete er: »In der Nähe von Dolo, Vice-Questore. Nein, wo genau, hat man mir nicht gesagt. Aber ich dachte, wenn jemand von uns dabei sein muss, dann sollten Sie als der Ranghöchste das übernehmen.«
Auf die nächste Frage seines Vorgesetzten erwiderte Brunetti: »Also einschließlich der Bootsfahrt und der Wartezeit am Piazzale Roma - bei der Fahrbereitschaft ist anscheinend etwas schiefgelaufen, und der Wagen wird nicht vor drei Uhr verfügbar sein - dürfte es nicht viel mehr als zwei Stunden in Anspruch nehmen. Das heißt, je nach Fahrzeugtyp dauert's vielleicht doch ein bisschen länger.« Wieder hörte Brunetti eine Weile zu, dann sagte er: »Ich verstehe vollkommen, Dottore. Aber das ist die einzige Möglichkeit, die Leute zu kontaktieren. Telefon gibt's dort draußen nicht, und die Carabinieri haben auch keine Handynummer, die sie anrufen könnten.«
Während Brunetti Blickkontakt zu Vianello suchte, hielt er den Hörer vom Ohr weg, so dass Patta sein Widerstreben in die Luft hineinsprach. Plötzlich beugte Vianello sich vor und deutete hinaus auf den Kanal, in den soeben das Boot der Carabinieri einbog. Brunetti nickte und nahm den Hörer wieder ans Ohr.
»Das verstehe ich, Vice-Questore, aber ich weiß nicht, ob es sich einrichten lässt ... Natürlich begreife ich, wie wichtig es ist, die guten Beziehungen zu den Carabinieri zu pflegen, aber denen wäre es bestimmt lieber, wenn ein Beamter höheren ...«
Indem er den ausgestreckten Zeigefinger kreiseln ließ, gab Brunetti dem Inspektor zu verstehen, dass die Verhandlungen sich noch einige Zeit hinziehen könnten. Doch als Vianello sich zur Tür wandte, unterbrach er kurz entschlossen Pattas Redefluss. »Wenn Sie darauf bestehen, Vice-Questore. Ich erstatte Ihnen dann Bericht, sobald ich zurück bin.«
Brunetti steckte hastig drei Fotos des toten Mädchens ein und eilte Vianello nach, der schon halb die Treppe hinunter war.
Draußen lag die Barkasse bereit, und der Inspektor sprang mit einem Satz an Deck. Nachdem er Steiner begrüßt hatte, streckte er Brunetti eine Hand entgegen und half ihm an Bord. Da Vianello den Maresciallo mit »Walter« angeredet hatte, stellte sich für Brunetti die Frage, wie er den Carabiniere nun ansprechen solle. Er entschied sich dafür, Vianellos Beispiel zu folgen, und nannte Steiner seinen Vornamen. Worauf der ihn freundschaftlich am Oberarm fasste und aufforderte, ihn ebenfalls »Walter« zu nennen.
Noch an Deck erklärte Brunetti, dass Patta ihn beauftragt habe, die Eltern des Kindes zu benachrichtigen. Wie dieses Arrangement zustande gekommen war, behielt er lieber für sich. Steiner, der mit unbewegter Miene zugehört hatte, bemerkte trocken: »Ein erfolgreicher Chef versteht zu delegieren.«
»So ist es.« Brunetti grinste zufrieden: Das Du hatte sie einander nähergebracht.
Die Männer gingen hinunter in die Kabine, während das Boot langsam Richtung Piazzale Roma
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