Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
Kinder zur Schule zu schicken, und sie stattdessen zum Klauen abrichteten, diese Kinder nicht sehr lange behalten würden.« »Und im Falle der nomadi ist das anders?« »Die Frage erübrigt sich wohl, Commissario«, antwortete Steiner betont schroff. Wieder fuhr er sich mit der Rechten durchs Haar, bevor er das Thema wechselte. »Jetzt, wo Sie wissen, wer das Mädchen ist, was haben Sie da für Pläne?« »Zunächst einmal muss man ihre Eltern benachrichtigen.« Steiner nickte.
Nachdem er dem Maresciallo Zeit zu einer Stellungnahme eingeräumt hatte - eine Gelegenheit, die Stein er ungenutzt verstreichen ließ -, sagte Brunetti: »Da ich die Leiche gefunden habe, sollte ich wohl auch mit den Eltern reden.«
Steiner musterte Brunetti einen Moment lang, dann erklärte er sich einverstanden. »Gibt es jemanden beim Sozialamt, der Kontakt zur Familie hat?«, fragte Brunetti. »Sogar mehrere.«
»Mir wäre eine Frau am liebsten. Um die Mutter vorzubereiten.«
Brunetti schien es, als verzöge Steiner spöttisch das Gesicht. Doch dann erhob sich der Maresciallo und kam mit der Akte um den Schreibtisch herum. »Hier drin finden Sie auch ein paar Berichte der zuständigen Sozialarbeiter.« Brunetti sah den Ordner an, machte aber keine Anstalten, ihn entgegenzunehmen.
Schmunzelnd wedelte Steiner mit der Akte. »Ich muss dringend eine rauchen, aber das darf ich nur im Freien«, sagte er. »Lesen Sie sich das in der Zwischenzeit durch, und wenn ich wiederkomme, sagen Sie mir, wie Sie vorgehen möchten, okay?«
Brunetti nickte und nahm den Ordner in Empfang. Steiner verließ das Büro und schloss leise die Tür hinter sich.
19
W ie hieß gleich wieder das Buch, aus dem Paola regelmäßig zitierte, wenn sie ein Seminar über Dickens hielt? Die Armen von Landon? Als sie ihm zum ersten Mal daraus vorgelesen hatte, war Brunetti schockiert gewesen, und das nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch weil Paola ihn mit so ingrimmiger Genugtuung vorgetragen hatte. Die Berichte über Hunderte von Menschen, die in fensterlosen Räumen hausten, über Kinder, die im kotverseuchten Fluss nach verkäuflichem Abfall stocherten, hatten ihn so verstört, dass Paola ihn »hasenherzig« nannte, was immer das bedeuten mochte. Und wenn er sich weigerte, den Schilderungen frühreifer Sexualität Glauben zu schenken, oder angesichts der aufgeführten Kinderarbeiten erbleichte, dann hatte sie ihm vorgeworfen, er stecke den Kopf in den Sand.
All diese Stellen fielen ihm wieder ein, während er die Berichte der Sozialarbeiter über das Roma-Lager außerhalb von Dolo las, in dem die Rocichs lebten. Ihre Unterkunft war eine raulatte, Baujahr 1979, für die sie keine Papiere besaßen. Und die anscheinend nicht beheizbar war.
Steiner hatte recht: So einen Wohnwagen als das Heim der Familie zu bezeichnen hieß, die Gepflogenheiten einer Gesellschaft willkürlich den Mitgliedern einer anderen überzustülpen. Das Auto, das zu der raulatte gehörte, war zugelassen auf Bogdan Rocich. Der war, ebenso wie Ghena Michailovich, die Frau, die den Wohnwagen mit ihm teilte, im Besitz eines UN-Flüchtlingsausweises. Im Pass der Frau waren drei Kinder eingetragen: Ariana, Dusan und Xenia. Deren Geburtsurkunden nannten Ghena Michailovich und Bogdan Rocich als Eltern.
Bogdan Rocich, der den Behörden auch unter einer langen Liste von Decknamen bekannt war, hatte ein ellenlanges Strafregister, das sechzehn Jahre, bis zu seiner mutmaßlichen Einreise nach Italien, zurückreichte. Zu den Vergehen, die ihm zur Last gelegt wurden, gehörten: Raub, Körperverletzung, Drogenhandel, unerlaubter Waffenbesitz, Vergewaltigung und Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Verurteilt hatte man ihn jedoch nur wegen illegalen Waffenbesitzes. Die Zeugen seiner übrigen Straftaten, die in den meisten Fällen auch die Opfer waren, hatten ihre Anschuldigungen jedes Mal zurückgezogen, bevor es zum Prozess kam. Ein Zeuge war ganz und gar verschwunden.
Auch Ghena Michailovich, gebürtig aus dem heutigen Bosnien, war mehrmals festgenommen worden, allerdings immer nur wegen Laden- oder Taschendiebstahls. Zweimal wurde sie verurteilt, kam aber als Mutter von drei Kindern beide Male mit Hausarrest davon. Sie verfügte ebenfalls über eine Reihe von Decknamen.
Nachdem Brunetti sämtliche Verhaftungsprotokolle der Eltern gelesen hatte, wandte er sich den Berichten über die Kinder zu. Jedes der drei war beim Sozialamt aktenkundig. Ihre Altersangaben waren unstrittig, da alle Geschwister in
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