Brunetti 17 - Das Mädchen seiner Träume
stur geradeaus schaute.
»Warum dann?«, hakte sie nach. »Warum kam es Ihnen so gelegen, die Frau ohne alle Nachforschungen für schuldig zu erklären?«
»Weil eine Zeugin die Frau am Arm festhielt, als diese dem Touristen den Geldbeutel aus der Tasche zog, und weil beide Augenzeugen Nonnen waren.« Steiner ließ diese Information erst einmal wirken, bevor er hinzusetzte: »Ich ging davon aus, dass eine Nonne nicht lügen würde.«
Dottoressa Pitteri zögerte nur kurz, bevor sie ihre nächste Frage abfeuerte. »Und Sie glauben ernsthaft, diese Frau hätte es riskiert, jemanden vor den Augen zweier Nonnen zu bestehlen?«
»Sie waren in Zivil«, entgegnete Steiner.
Brunetti hatte es während dieses Wortwechsels vermieden, Signora Pitteri zu beobachten, doch jetzt konnte er nicht länger widerstehen. Ihr Blick bohrte sich so zornfunkelnd in Steiners Hinterkopf, dass Brunetti sich nicht gewundert hätte, wenn Haar und Schirmmütze des Maresciallo Feuer gefangen hätten und in Flammen aufgegangen wären.
Inzwischen waren alle in Schweigen versunken. Hin und wieder kam eine Nachricht des Polizeifunks übers Radio, aber so leise, dass man auf der Rückbank kaum etwas verstand, und weder Steiner noch der Fahrer schien an den Meldungen interessiert.
Der Fahrer nahm die Auffahrt zu der Straße, die zum Flughafen führte. Brunetti, der schon seit längerem nur noch mit Boot oder Wassertaxi zum Flughafen gefahren war, wunderte sich, wie viele Kreuzungen man auf einmal durch Kreisel ersetzt hatte. Ob dieser Kreisverkehr von Vorteil war, konnte er als Autofahrer mit mangelnder Praxis nicht beurteilen. Er hätte den jungen Carabiniere fragen können, scheute sich aber, das Schweigen zu brechen.
Der Flughafen glitt zu seiner Rechten vorbei, und bald danach hielten sie an einer Ampel. Wie aus dem Nichts tauchte auf der Fahrerseite eine Frau im langen Rock auf, die ein verhülltes Bündel im Arm hielt, das ein Baby sein mochte oder vielleicht auch nur ein in Windeln verpackter Fußball. Die Frau presste sich mit einer Hand einen Zipfel ihres Kopftuchs vor Nase und Mund, wie um sich vor den Auspuffgasen der im Leerlauf tuckernden Motoren zu schützen. Die andere, hohle Hand hielt sie mit flehender Geste ausgestreckt.
Die fünf Insassen des Kombis blickten mit versteinerter Miene geradeaus. Sobald die Frau auf dem Vordersitz zwei Uniformierte erkannte, wich sie zurück und peilte den Wagen hinter ihnen an. Dann sprang die Ampel um, und sie fuhren weiter.
Mit der Zeit lastete das Schweigen bleischwer auf der kleinen Gruppe. Rechts und links der autostrada sah man Felder und Bäume, hin und wieder ein einzelnes Haus oder ein paar Gehöfte. Die Obstbäume standen zum Teil schon in Blüte. Brunetti, dessen Blick unermüdlich hin und her schweifte, stellte fest, dass er das seltene Schauspiel frisch sprießender Natur in weiter, offener Landschaft trotz der Spannung im Wagen genießen konnte. Die Sommerferien sollten sie dieses Jahr unbedingt irgendwo im Grünen, inmitten von Wiesen und Wäldern verbringen: keine Strände, egal ob Sand oder Felsen, und wenn die Kinder noch so quengeln mochten. Stattdessen ausgedehnte Spaziergänge, Bergluft, klare Bäche und Flüsse, heitere Wolken über gleißenden Gletschern. Südtirol vielleicht? Hatte Pucetti nicht einen Onkel, der in der Nähe von Bozen Ferien auf dem Bauernhof anbot?
Der Wagen verlangsamte das Tempo. Sie verließen die autostrada und fuhren am Ende der Abfahrt rechts auf eine Landstraße, die beiderseits von Flachbauten gesäumt war: Industriebetriebe, Gebrauchtwagenmärkte, Tankstellen, eine Bar, ein Parkplatz und noch einer. An der zweiten Ampel ging es wieder rechts ab, und sie gelangten in eine Siedlung von Einfamilienhäusern, jedes mit einem eigenen Stück Land, die etwas von der Straße zurückgesetzt standen. Irgendwann blieben die Häuser zurück und wurden von grünen Äckern abgelöst.
Wieder Ampeln, abermals Häuser, die aber jetzt komplett mit Maschendraht eingezäunt waren. In vielen Gärten sah Brunetti Hunde, große Hunde. Sie legten noch etwa einen Kilometer zurück, dann bremste der Fahrer, blinkte und bog rechts ab.
Sie hielten vor einem Eisentor. Der Fahrer hupte einmal, zweimal, und als sich nichts rührte, stieg er aus und öffnete selbst das Tor. Sobald sie den Eingang passiert hatten, hielt er auf Steiners Weisung hin noch einmal an, lief zurück und schloss das Tor wieder.
Hinter den ungefähr im Halbkreis parkenden Autos standen kreuz und quer
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