Buch Der Sehnsucht
Leben verhelfen.
Ich erlebe häufig Menschen, die alles, was sie tun, in den schönsten Farben zeichnen müssen. Wenn sie vom Urlaub erzählen, dann war der durchweg phantastisch. Wenn sie einen Kurs besucht haben, dann war das die tiefste Erfahrung, die sie je gemacht haben. Manchmal habe ich da den Verdacht, dass sie alles in so rosiges Licht tauchen müssen, um ihre Enttäuschung zu verbergen. Denn eigentlich ist ihr Leben durchschnittlich. Im Urlaub gab es viele Missverständnisse mit dem Ehepartner. Aber nach außen hin muss man davon schwärmen. Man muss sich selbst beweisen, dass alles, was man tut, richtig ist. Aber hinter der Fassade sieht es ganz anders aus. Die Sehnsucht lässt mich mein Leben ehrlich anschauen. Ich muss nicht übertreiben.
Ich muss den anderen nicht beweisen, wie tief meine Erfahrungen sind und welche Riesenfortschritte ich auf meinem inneren Weg mache. Ich nehme mich so an, wie ich bin: durchschnittlich, aber doch auch suchend, erfolgreich und erfolglos, sensibel und unsensibel, spirituell und zugleich oberflächlich. Ich darf mein Leben so anschauen, wie es ist. Denn meine Sehnsucht geht über dieses Leben hinaus. In der Sehnsucht manipuliere ich nicht. Die Sehnsucht ist einfach da. Und nur dort, wo die Sehnsucht ist, ist wirkliches Leben. Nur dort, wo ich mich meiner Sehnsucht stelle, bin ich auf der Spur des Lebens, entdecke ich meine eigene Lebendigkeit. Und auf der Spur der je größeren Lebendigkeit überwinde ich meine eigene enge Begrenztheit.
UNTER DER OBERFLÄCHE
Wir beurteilen die Menschen meist nach dem, was sie erreicht haben. Wir fragen, wie weit sie in ihrem Beruf gekommen sind, wie viel Wissen sie sich angeeignet haben, wie viel Besitz sie erworben haben. Doch das ist nur die Oberfläche eines Menschen. Der arabische Schriftsteller Khalil Gibran schlägt eine andere Perspektive vor: „Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt." Khalil Gibran sagt mit intuitiver Klarheit: Nur durch den Blick auf seine Sehnsucht können wir das Herz und den Verstand eines Menschen wirklich verstehen. Dass die Sehnsucht einen Blick in das Herz eines Menschen erlaubt, leuchtet uns unmittelbar ein. Besitz verstellt oft das Herz. Menschen, die die Karriereleiter erklommen haben, verbergen uns oft, was sie im Innersten bewegt. Sie setzen in ihrem Handeln auf reine Rationalität und in ihrem Verhältnis zu anderen auf Selbstsicherheit; in ihrem Bezug zur Wirklichkeit halten sie das Prinzip Objektivität hoch. Wie es im Herzen eines solchen Menschen wirklich aussieht, erkennen wir daran freilich nicht. Aber wer sich nur nach Besitz sehnt, dessen Herz wird immer unruhig und unzufrieden sein. Wer sich nur nach Erfolg sehnt, dessen Herz erkaltet. Wer sich aber nach Echtheit sehnt, nach Liebe, Gerechtigkeit und Güte, dessen Herz ist lebendig.
Das alles leuchtet unmittelbar ein. Was uns aber wirklich erstaunt: Khalil Gibran geht noch darüber hinaus, wenn er sagt, dass wir auch den Verstand eines Menschen erst verstehen, wenn wir auf seine Sehnsucht schauen. Wir sind ja in aller Regel davon überzeugt, Verstand und Sehnsucht seien Gegensätze. Doch in der Sichtweise des Dichters lässt das Wonach der Sehnsucht auch auf die Qualität des Verstandes schließen. Wer nur auf schnelle Bedürfnisbefriedigung und kurzfristigen Gewinn aus ist, dessen Verstand ist zu eng. Er mag einen noch so hohen Intelligenzquotienten haben, sein Verstand ist unterentwickelt. Wirklichen Verstand hat nur, wer sein Augenmerk auf Güter richtet, die die Sehnsucht wirklich zu erfüllen vermögen. Letztlich können nur Güter unsere Sehnsucht stillen, die über diese Welt hinausweisen und hinausreichen. Wer sich nach Liebe sehnt, sehnt sich nicht nur nach einem konkreten Menschen, der ihn liebt und den er zu lieben vermag.
Letztlich steckt in der Sehnsucht nach Liebe immer schon die Ahnung einer unendlichen Liebe, die mehr ist als Lieben und Geliebt werden. Es ist die Sehnsucht danach, Liebe zu sein. Wer Liebe ist, der hat teil an der Wirklichkeit des Absoluten. Ähnlich verhält es sich mit der Schönheit. Wer sich nach Schönheit sehnt, der sehnt sich letzten Endes danach, im Betrachten der Schönheit sich selbst zu vergessen, teilzuhaben an der Schönheit, selbst schön zu sein. Dies gilt für alle Güter, für die Gerechtigkeit, für die Wahrheit, für die Güte, für die Barmherzigkeit, für die Weisheit. All
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