Buch Der Sehnsucht
diese Haltungen sind offen für eine unendliche Wirklichkeit. Und sie führen uns zu ihr hin, über all unsere Begrenztheit hinweg. Wer sich nach dieser größeren Wirklichkeit sehnt, der ist wirklich weise. Dessen Verstand blickt durch alles Vordergründige hindurch und wird erst so der ganzen Wirklichkeit gerecht.
WIRKLICH DEIN EIGENTUM?
„Nicht der ist arm, der wenig wünscht, sondern der immer mehr zu haben wünscht." Als vor einiger Zeit die Börsenkurse einbrachen, versuchte ein Börsenexperte im Fernsehen seine Zuschauer, deren Kontostände plötzlich geschmolzen waren, mit dieser alten chinesischen Weisheit zu trösten: Diese vor mehr als zweitausend Jahren geäußerte Einsicht eines Philosophen aus einer ganz anderen Kultur hat in der Tat viel mit unserer heutigen Gegenwart zu tun, denn sie geht von der Kenntnis des menschlichen Herzens aus. Auch heute sehnen sich viele Menschen nach Besitz. Sie denken, wenn sie erst genügend davon haben, würden sie endlich Ruhe finden. Besitz übt einen eigenartigen Reiz aus. Sobald ich jedoch das Ersehnte besitze, kann ich es oft schon nach kurzer Zeit nicht mehr genießen. Es wird alltäglich. Und so möchte ich immer mehr haben. Was ich bereits besitze, habe ich schon verloren. Es hat für mich seinen Reiz verloren.
Im Gegensatz zum Besitz scheint die Sehnsucht nichts Handfestes zu sein. Und dennoch gilt: „Nur was wir ersehnen, ist unser Eigentum. Was wir besitzen, haben wir schon verloren." Alfred von Harnack hat Recht mit dieser Feststellung: Was ich ersehne, das ist in meinem Herzen. Es gehört mir ganz und kann mir nicht geraubt werden. Kein gieriger Mensch, kein Hochwasser und kein Feuer kann das, was ich ersehne, zerstören. Es bleibt in meinem Herzen. Es ist mein wahres, mein wirkliches Eigentum.
EIN PARADOX
Die deutsche Sprache verbindet Sehnsucht mit der Sucht, der Krankheit und dem Schmerz. Wilhelm Raabe sieht die Sehnsucht anders: „Des Menschen Herz kann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt." Gerade dann, wenn es sich sehnt? Welche Erfahrung mag den Dichter zu dieser Einsicht geführt haben?
Natürlich ist wer sich sehnt, nicht glücklich in dem Sinn, wie der glücklich ist, der Erfüllung erfährt. Er hat nicht alles, was er zum Leben braucht. Er kann sich nicht zufrieden zurücklehnen. Und dennoch: Der Mensch, der sich sehnt, besitzt alles, was er braucht. Auch im größten Mangel hat er die Sehnsucht nach dem in sich, was seine Seele im Tiefsten zufrieden stellt. In der Sehnsucht übersteigt er den Augenblick, mag er nun zufrieden stellen oder eher enttäuschen. Es stimmt wirklich: Wer sich sehnt, der wird auch von den Tagesereignissen unabhängiger. Ob der Tag nun gelungen ist oder nicht, ob der erwartete Besuch da ist oder nicht, ob die Begegnungen beglückend waren oder eher schmerzlich, die Sehnsucht wird davon nicht berührt. Die Sehnsucht hat teil am Paradox der Liebe. Wer verliebt ist, fühlt sich krank vor Liebe, und zugleich könnte er nicht glücklicher sein. Indem er sich nach dem Geliebten sehnt, spürt er das Glück der Liebe. So vermittelt auch die Sehnsucht eine eigene Erfahrung von Glück. Es ist das Glück, das auf uns zukommt, das uns erwartet. Und dieses Glück, das wir ersehnen, ist mit der Sehnsucht schon in uns. Es ist unzerstörbar, eben weil es noch nicht da ist und weil es uns letztlich erst in Gott in seiner ganzen Fülle zuteil wird. Die Kirchenväter sprachen von der unzerstörbaren Freude, die uns auch durch Krankheit und Unglück nicht genommen werden kann. In der Sehnsucht lebt etwas von dieser unzerstörbaren Freude in uns.
GLÜCKSELIGER URGRUND DER SEELE
Manche meinen, die Aufgabe der Psychologie bestehe darin, den Menschen von seiner Sehnsucht weg und hin zur Realität zu führen. Der Focusing- Therapeut Klaus Renn schlägt einen anderen Weg vor. Er sieht in der Sehnsucht einen Weg zur eigenen Lebensfülle, wenn er schreib t: „Wenn Du der Sehnsucht hinter Deinem alltäglichen Tun in bestimmter Weise folgst, so kommst Du Deiner Lebensfülle auf die Spur. Wie von selbst verbindet ,ES' sich mit Deinen Kraftquellen. Und in Deinem persönlichen Tiefenprozess entstehen von ganz alleine neue Vorstellungen und Bilder über Dich selbst, die heilsam sind und Energie hervorbringen. Das Innere sehnt sich einfach nach Freude, Fröhlichkeit, Lust auf..., wie zu echter Trauer über..., wirkliche Wut auf..., und nach wesentlichem Tiefsinn... Und unter/hinter all dem wartet in Deiner Tiefe
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