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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Jahren in Craiova war das Leben für ihn einfach geworden. Vormittags begleitete ich ihn in den Park um die Kirche des heiligen Dumitru. Dort spielten sie zu viert Karten. Einer der Mitspieler war Herr Oberst, dessen Namen ich nie erfuhr. Herr Oberst kam in eleganten Kleidern und mit einem Spazierstock mit Silberknauf. Er hatte als Legionär viele Jahre im Zuchthaus verbracht. Die beiden anderen, feist und in zu engen Kleidern, waren die Genossen Botrâncă und Butnaru. Botrâncă war als Angestellter des Volksrats pensioniert worden, er war einer von denen, die Jahre zuvor Großvaters Verhaftung in die Wege geleitet hatten. Nun aber spielten sie alle zusammen Karten – der Kommunist, der Legionär, der Kaufmann und der Prolet –, redeten über Medikamente und über das Wetter. Dies war ihre Weise, sich nach Jahren mit der Geschichte zu versöhnen. Das Kartenspiel war ihr Potsdamer Abkommen.
    Ansonsten, vor allem an frostigen Wintertagen, kommunizierte mein Großvater mütterlicherseits, Setrak Melichian, mit der Welt. Morgens um sechs hörte er die Nachrichten von Radio Bukarest. Um elf Uhr hörte er Radio Moskau in rumänischer Sprache. Vor dem Essen hörte er, wenn es ihn überkam, Radio Tirana. Dies amüsierte ihn am meisten. So gegen halb drei hörte er die Stimme Amerikas in rumänischer Sprache und danach Radio Liberty auf Armenisch. Nachmittags lauschte er Emil Georgescu und der Sendung »Rumänische Aktualitäten« bei Freies Europa. Dann, so gegen sieben Uhr abends, hörte er wieder die Stimme Amerikas und etwas später die Nachrichtensendung der BBC. Nach zehn Uhr abends, mit fast schon zugefallenen Augen an seinem Lindenblütentee schlürfend, hörte er »Der Tag in einer Stunde« von Radio Bukarest. Dann wandte er sich um und sagte zu mir: Siehst du, alles Lüge! Am nächsten Tag begann er von vorne. Dabei lachte er und klatschte in die Hände. Bei einer blutigen, quälenden und feindseligen Geschichte. Er lachte.
    Er war ein sehr gesunder Mensch. Nicht einmal mit seinen Krankheiten hat er jemanden belästigt. Er starb vor Kälte im grausamen Winter 1985. Die Gasflämmchen zuckten kaum. Wahrscheinlich hatte das Blut, sein guter Freund, wegen der Kälte nicht mehr die Kraft zu fließen. Ich kam gerade rechtzeitig, um ihm die Gebetskränze aus Olivenkernen aus den Taschen zu nehmen, die ich seitdem in der Brusttasche meiner Sakkos bei mir trage. Als wir ihn in den Sarg legten, war er leicht wie ein Vogel.
    ALEATORISCHES LIED . Meine Großväter Garabet Vosganian und Setrak Melichian haben aus ihrem Jahrhundert bloß verstanden, wie schwer es ist, in der gleichen Erde zu sterben, aus der man geboren wurde. Die alten Armenier meiner Kindheit hatten keine Gräber, an deren Kopfenden sie hätten sitzen und ihre Eltern beweinen können. Sie trugen ihre Gräber überall, wo sie herumirrten, bei sich; und so wie die Juden ihre Bundeslade irgendwo hinsetzten und darum herum ihren Tempel bauten, haben auch sie, wenn sie irgendwo rasteten, sich die Gräber von den Schultern genommen und ihren Hausstand gegründet.
    Ich spüre sie oft, dort, in den Himmeln. Meinen Großvater Garabet Vosganian, bedachtsam und mit wohlabgewogener Rede. Meinen Großvater Setrak Melichian, lächelnd und den Gebetskranz durch die Finger gleiten lassend. Sie spielen
Ghiulbahar
. Du musst die Würfel in der Faust gut durchschütteln, damit sie wissen, was du von ihnen erwartest, sagt Großvater Garabet. Bedingung ist, dass du vor allem weißt, was du willst. Schaaau, freut er sich, die Eins und die Eins! Großvater Setrak lässt sich nicht verdrießen, er lacht und neigt sich unter dem Himmelsdach hervor. Wenn du die Eins und die Eins geworfen hast, gibt es wieder Krieg. Sieh nur dort, dort in der Ferne. Tatsächlich, irgendwo da unten war dunkel aufsteigender Rauch zu sehen. Großvater Setrak bläst in die Faust und wirft, mit aufgerissenen Augen die Würfel betrachtend. Sechs und sechs, lacht er und klatscht in die Hände. Siehst du, sagt er und schaut wieder herunter. Die dunklen Schwaden haben sich verzogen. Es ist Frieden. Du trickst, verfinstert sich Großvater Garabet. Das nächste Mal musst du die Würfel im Becher schütteln. Damit hast du den Käse fett gemacht, lacht ihn Großvater Setrak aus. Die Fünf und die Vier, das reicht nicht einmal für eine Sintflut. Schau her! Und er schmollt. Drei, zwei. Jetzt geschieht tatsächlich nichts. Nichts Neues! Bewahre uns Gott vor Neuheiten, sagt Großvater Garabet. Setrak starrt auf die

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