Buch des Flüsterns
das man in den Boden rammt. Wahrscheinlich war ein Teil von ihm für alle Zeiten am Ufer des Euphrat verblieben und sprach mit dem blutgetränkten Wasser. Die Menschen sprechen ganz oft mit ihren eigenen Gedanken. Großvater Setrak sprach mit seinem eigenen Blut.
Er erreichte den Fuß des Musa-Berges zu spät. Die Kämpfe hatten aufgehört, und die Schiffe, die die letzten Kämpfer vom Berg gerettet hatten, waren schon lange ausgelaufen. Also wandte mein Großvater sein Gesicht ab vom Meer und zog wieder nach Norden, gegen Russland hin. Ein langer Weg: Jerewan, Tiflis, Rostow am Don.
Er ging nach Europa. Dies war Familienbrauch, wie seinerzeit Peter der Große reisten die jungen Leute nach Europa, wo sie sich Handwerke aneigneten, gute Umgangsformen und europäisch sprechen lernten. Dann kehrten sie nachhause zurück und heirateten. So war es einigen seiner älteren Cousins aus der Melichianschen Linie gelungen, dem Gemetzel zu entkommen: Oskian, Artur, Melcon, Calust, Nșan und Khoren. Aus den Briefen, die in ruhigen Zeiten sonntags in der Kirche vorgelesen wurden, hatte mein Großvater erfahren, dass sie in Rumänien gelandet waren. Nun ging auch er dorthin, nach Westen. Mittlerweile hatte sich die ihn umgebende Welt verändert. Man sah Soldaten ohne Schulterklappen, die sich mit ihren Gebrechen dahinschleppten, verstreut umherirrende Gruppen, die verschwanden, wenn sie das Hufgetrappel der herrschaftlichen Polizei vernahmen. Die russische Revolution rückte näher.
Unter Soldatenkonvois, Pferdewagen mit Markleuten und Bettlerbanden gelangte Großvater Setrak nach Odessa. Dort fand er eine Anstellung bei einem armenischen Barbier, der ihn mit dem Hintergedanken, ihm den Laden zu übertragen und mit seiner Tochter zu verheiraten, als Lehrjungen angenommen hatte. Großvater fegte die herabgefallenen Haare zusammen und wusch die Handtücher. Eines Tages kam ein junger Mann angeritten, band das Pferd an der Eingangstür fest und betrat den Laden. Als Großvater ihm das Tuch umlegen wollte, trafen sich ihre Blicke im Spiegel. Es gibt Dinge, die fügt das Leben auf eine Weise, dass es selbst davon verblüfft wird. Der junge Mann war kein anderer als der Cousin Khoren, den die anderen Geschwisterkinder ausgesandt hatten, die Verwandtschaft aufzuspüren. Khoren wartete die Rasur nicht mehr ab. Er riss das Tuch weg, packte Großvater am Arm und sagte: Ein Melichian darf nirgendwo und bei niemandem den Diener machen! Er ließ ihn hinter sich auf dem Pferd aufsitzen, und sie brachen auf, zurück nach Craiova. Denn mittlerweile hatte Großvater ihm zwischen Schluchzern gesagt, dass es keinen Sinn mehr hatte, seine Reise weiter nach Osten hin fortzusetzen, denn alle anderen Melichians seien tot. Selbst Satenig, hatte er gesagt, ohne zu ahnen, dass es nach Jahren eine Begegnung im Hafen von Constanța geben sollte. Damals erzählte er zum einzigen Mal in seinem Leben vom Tod Harutiuns, seines älteren Bruders.
Die Geschwisterkinder legten zusammen und halfen ihm, ein Kolonialwarengeschäft zu eröffnen. Durch seiner Hände Arbeit hat sich Großvater eine ganze Ladenkette zugelegt und sich zwei Häuser gebaut. Auf den Bildern ist er immer schön angezogen, er trägt einen Strohhut, die Uhr an der Kette und eine Fliege. Mit gleichbleibender Heiterkeit trotzte er den Widrigkeiten der Geschichte. Weil er heimatlos war, mit einem Nansen-Pass ausgestattet, gaben ihm die Liberalen nur nach großen Schwierigkeiten die Handelslizenz. Ein paar Legionäre hielten ihn für einen Juden, und während der Rebellion hätten sie ihm beinahe das Geschäft angezündet. Die Kommunisten nahmen ihm alles weg, und er entkam nur mit knapper Not dem Gefängnis. Sein Glück war, dass er zur Zeit der Deutschen den sowjetischen Gefangenen, unter denen sich auch ein paar Armenier befanden, unentgeltlich Brot geschickt hatte. Als die Rote Armee Craiova besetzte, erinnerte sich ein Offizier, der von den Deutschen gefangen genommen war, an ihn, und so entging er dem Gefängnis. Mit Hängen und Würgen schaffte er es dann bis zur Rente, zuerst als Nachtwächter am Lyzeum »Gebrüder Buzești« und danach in weiteren ähnlichen Beschäftigungen, die ihn gerade einmal so vor dem Hungertod bewahrten. Er hatte sich mit niemandem verfeindet und sich stets mit dem Schicksal versöhnt, das ihm auferlegt war. Er war ein fröhlicher und weiser Alter, hat keinem etwas Böses getan und allen verziehen, die ihm irgendein Ungemach bereitet hatten.
In seinen letzten
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