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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Würfel. Was ist denn das? Schau, da ist mein Gesicht drauf und dort deines! Du hast sie durcheinandergebracht, sagt Garabet, der Weise. Das sind alte Würfel, die gehören jemand anderem. Gib sie zurück. Wem denn? Wem soll ich sie geben? Hier sind doch nur wir zwei! Großvater Garabet zuckt mit den Schultern. Nun ja! Wenn noch einmal unsere Gesichter beim Würfeln fallen, gilt es nicht. Du bist dran. Sie spielen weiter, sortieren mit ihren Würfeln die Welt, die Kriege, Geburten, Wunder und, vor allem, den Leidensweg.
    Unter den Erscheinungsformen des Feuers, den Gerüchen der Kindheit, Bäumen und Phantasmen war ich geborgen.
    Und trotzdem waren die Zeiten trübe. Manchmal sprachen Großvater Garabet und unser Nachbar Sahag Șeitanian nur im Flüsterton. Eines Tages tauchte im Hof auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein alter Mann auf, den ich nicht kannte, Carol Spiegel. Eine Zeitlang ging der Alte nur in den Garten; sonst saß er auf dem Sofa und blickte ins Leere. Dann sah ich durch die Zaunlatten, wie er bis ans Tor kam und die Straße hinaufschaute. Eines Morgens trat er hinaus, die trockenen Blätter vom Bürgersteig zu fegen. Und noch ein paar Tage später, allerdings erst gegen Abend, traute er sich, auch an unser Tor zu klopfen.
    Ich wusste nicht, was ein Gefängnis ist. Erst einige Zeit später verstand ich Großvaters Erklärung, die mir damals wie ein Spiel geklungen hatte: Das Gefängnis ist dort, wo die Welt der anderen sich so weit ausdehnt wie irgend möglich, und deine Welt ist winzig klein.
    Carol Spiegel war das, was man einen Kollaborateur nannte. Während des Krieges arbeitete er im Bürgermeisteramt. Da er Deutscher war, diente er als Übersetzer. Übrigens hatte sich die deutsche Besatzung in der Stadt wohlgeordnet abgespielt. Die Deutschen ließen die Stadtbewohner in Ruhe, betranken sich nicht und machten keinen Krach. Ganz anders aber war es, als die Sowjets kamen. Die Mädchen blieben tagsüber zuhause eingesperrt, und die Kneipenwirte hatten ihre Getränkestuben verrammelt.
    Im Falle der Bombardierungen war es umgekehrt. Die russischen waren leichter zu ertragen. Von allen Unglücksfällen, die während des Krieges über unsere Stadt gekommen waren, nannten meine Großeltern am häufigsten das große Erdbeben von 1940. Nicht die Bombardierungen. Was hatte es für einen Sinn, sich zu verstecken?, fragte Großvater Garabet. Wenn die amerikanischen Flugzeuge kamen, blieben wir ruhig sitzen. Sie suchten die deutschen Kasernen an der Landstraße. Sie bombardierten sie dermaßen präzise auf beiden Seiten der Straße, dass sie dem Erdboden gleichgemacht waren, aber die Straße war davon unberührt. Und was die Russen betrifft, so hatte man ebenfalls keinen Grund, sich zu fürchten. Ich weiß nicht, was die Russen suchten, aber was auch immer sie gesucht hätten, sie trafen es nie. Bloß eines Abends fielen zwei Bomben auf unsere Vorstadt. Keine von beiden ist explodiert. Die erste hat sich in einem Garten zwischen dem Gemüse eingegraben, und die andere ist auf ein Haus gefallen und hat ein Loch in das Dach geschlagen. Der Mann hat die Bombe vergraben, damit die Kinder nicht davor erschrecken, und dann hat er die Dachziegel erneuert.
    Großvater war durch beide Kriege gegangen. Er hatte nicht gekämpft, aber ihnen zugeschaut. Die in die Kämpfe verwickelt waren, hatten weniger begriffen.
    Deshalb erzählte Großvater Garabet davon. In seinen Geschichten waren die Sieger nicht immer diejenigen, die ich aus den Büchern kannte. Keine Hast, sagte er. Der gesiegt zu haben scheint, ist nur selten auch tatsächlich der Sieger. Und gemacht haben die Besiegten die Geschichte, nicht die Sieger. Siegen ist letztlich eine Art und Weise, aus der Geschichte hinauszutreten. Er griff nach dem großen Buch. Das ist Vartan Mamigonian. Und hier ist die Schlacht zwischen den Armeniern und den Persern im Jahre 451 auf dem Avarair-Feld. Unser Heer wurde vernichtet bis zum letzten Soldaten. Die Perser sagten sich zufrieden, es reicht für diesen Tag, und zogen mit dem Vorsatz ab, zurückzukehren und das gesamte armenische Reich zu erobern. Und was ist schließlich geschehen? Die Perser sind nicht mehr zurückgekommen, sie sahen sich gezwungen, auf ihren Glauben zu verzichten, und statt sich weiterhin vor der Sonne zu verbeugen, gingen sie zum Islam über. Dafür sind wir bis auf den heutigen Tag Christen geblieben. Also hat Vartan Mamigonian mit seinem hingemetzelten Haufen gesiegt.
    Und Großvater Setrak,

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