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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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der Vater meiner Mutter, Philosoph des Blutes, sagte: Blut ist widersetzlicher als das Fleisch. Siegreich sein, bedeutet nicht, die Macht zu haben, das Blut anderer zu vergießen – das ist eher Gleichgültigkeit oder Hass –, sondern die Kraft, dein eigenes Blut zu vergießen. Und Großvater Setrak, der die Geschichte und deren Sieger an der Kraft des Blutes maß, setzte sich mit im Schoß ineinandergelegten Händen nieder, damit das Blut einen Kreis durchlaufen konnte und zur Ruhe kam.
    Eben deshalb meinte Großvater Garabet, dass diejenigen, die wirklich Geschichte schreiben, nicht die Generäle, sondern die Dichter sind, und dass man die wirklichen Schlachten nicht unter den Hufen der Pferde suchen muss. Doch selbst Großvater war verblüfft und musste anerkennen, dass uns die Gesetze des Krieges nicht vollends vertraut waren. Denn nicht nur er kannte die Geschichte der im Garten vergrabenen Bombe. Auch ein paar Kinder hatten davon gehört und in aller Heimlichkeit begonnen, sie auszugraben. Es gibt eine Wirklichkeit, die so ist, wie wir sie sehen, und es gibt eine andere Wirklichkeit, die der Samen. Ohne davon etwas zu wissen, hatten die Kinder begonnen, die beiden Welten zu vermengen. Und der Samen des Krieges, lange schon vergraben, schoss zum Himmel empor. Sergiu, meinen größeren Freund, hat die Explosion sofort umgebracht, und der kleine Tofan kam gerade noch mit dem Leben davon, bis heute trägt er die Spuren eines Krieges auf der Brust, der nicht seiner war. Also, beschloss Großvater, ist der Krieg nicht vorbei. Welcher Krieg?, fragte ich. Es gibt bloß einen. Nur dass er immer an einer anderen Stelle ausbricht, wie Nesselfieber. Je mehr du kratzt, umso heftiger brennt es. Letztlich ist die Geschichte nichts als ein langes Kratzen.
    Eines Tages kam ein Mann in einer Ledermontur und fragte Großvater nach Carol Spiegel. Großvater sagte nur wenig, meistens zuckte er mit den Schultern. Gegen Abend kam Carol Spiegel und fragte ihn über den Mann in der Ledermontur aus. Wieder zuckte Großvater mit den Schultern. Auf diese Weise hat er keinen von beiden überzeugt. Und trotzdem hat keiner weiter insistiert. Der Unbekannte kam nicht wieder, und Carol Spiegel starb ein paar Tage darauf. Bei der Beerdigung standen nur Großvater Garabet und sein Schwager Sahag bei Frau Spiegel. Alle anderen hatten nicht einmal gemerkt, dass Frau Spiegel eine kurze Zeit lang wieder bunte Kleider trug statt der schwarzen, an die man sich bei ihr vom Krieg an gewöhnt hatte. Für sie war Carol Spiegel viele Jahre vor seinem Tod bereits aus dieser Welt verschwunden. Wie Regen, der schon, bevor er vom Himmel fällt, über deine Schläfen rinnt.
    In meiner Kindheit lebte ich in einer Welt des Flüsterns. Man sprach bedacht. Erst später habe ich erfahren, dass Flüstern auch andere Bedeutungen hat, etwa Zärtlichkeit oder Gebet.
    Es gab aber auch Dinge, die man rückhaltlos aussprach. Sogar über den Zaun hinweg, beispielsweise dass das Auto mit dem Brot auf Bezugsscheine angekommen ist. Andere Sachen sagte man nur bei geschlossenem Fenster. Oder auf der Bank mitten im Hof, wenn niemand auf der Straße vorüberging. Und selbst dann sprach man mit gedämpfter Stimme, als hätte es da noch ein paar Fenster gegeben, die man nicht schließen, oder Passanten, die man nicht sehen konnte.
    Einfacher wäre es gewesen, wenn die Leute noch näher beisammengesessen hätten, die Köpfe einander zugeneigt, und ohne den Zwang, sich allzu sehr zu konzentrieren, damit bloß kein Wort verpasst würde. Von weitem muss alles natürlich aussehen, erklärte Großvater. Sie sollen glauben, du erzählst irgendwelche Belanglosigkeiten, dich geht das nichts an. Sollen ruhig zuhören. Sozusagen. Und sie saßen auf ihren Holzbänken, den Rücken gerade, die Gesichter erhoben, und redeten. Sie beugten sich nicht zueinander, wenn sie die Stimme senkten. Mit unfasslicher Pfiffigkeit vernahmen sie ihr wechselseitiges Geflüster. Selbst Arșag, der wegen der Glocken etwas schwerhörig war. Wenn es ihm nicht gelang, von deinen Lippen zu lesen, ließ er dich das Gesagte wiederholen. Aber niemals die geflüsterten Wörter. Diese hörte er auf rätselhafte Weise immer. Sie vibrierten in der Luft, und er spürte sie durch die Haut wie die Fledermäuse.
    Über mehrere Dinge durfte ich nicht sprechen. Aber vor allem durfte ich, heftigst vorgewarnt, niemandem, weder im Kindergarten noch jemand Unbekanntem sagen, dass bei uns zuhause manchmal im Flüsterton gesprochen

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