Buch des Flüsterns
wurde. Was flüsterst du da?, fragte ich. Ich lese, antwortete Großvater Garabet. Wie liest du? Wo ist dein Buch? Das brauche ich nicht mehr. Ich kann es auswendig. Gut, aber wie heißt dieses Buch? Wer hat es geschrieben? Du vielleicht, eines schönen Tages. Was ich jetzt tatsächlich auch mache. Und ich nenne es genau so:
Buch des Flüsterns
.
Ein Besucher, mit dem man bei uns zuhause im Flüsterton sprach, war Hagop Djololian Siruni. Ein untersetzter Mann mit zwei sorgsam gekämmten Haarbüscheln über den Ohren. Über den dicken Brillengläsern kräuselten sich seine Brauen beim Versuch, jemanden genau in den Blick zu kriegen, was ihm sichtlich schwerfiel. Diese Anstrengung ließ ihn ungeduldig erscheinen, was durch seine Hände noch verstärkt wurde, mit denen er im Rhythmus seiner Rede herumfuchtelte. Wenn er las, beugte er sich so tief über die Buchstaben, dass seine Augen beinahe die Seiten berührten. Er mochte vor allem die alten, mit arabischen Schriftzeichen bedruckten Bücher, von denen Großvater einige aufbewahrt hatte.
Siruni war vor einigen Jahren aus Sibirien zurückgekehrt. Großvater hatte mir erklärt, Sibirien sei ein Gebiet mit sehr viel Schnee, wo die Tiere wegen des Schnees und der Kälte weiß sind. Ich pflanzte mich mit meinem Buch
Fram, der Eisbär
vor Sirumi auf und fragte ihn, ob es dort, wo er war, auch so schön gewesen sei. Sogar noch schöner, antwortete er. Ich wunderte mich jedoch, als er sagte, er habe Jäger gesehen, aber keine Bären.
Siruni und dessen Geschichte waren Gegenstände, denen meine Familie übrigens strengstens auswich. Lange danach, und erst nachdem uns der Schriftsteller Bedros Horasangian dazu aufgefordert hatte, begannen wir die Dinge zu sortieren und zu verstehen. Wozu natürlich auch gehörte, dass die Jäger, von denen Siruni gesprochen hatte, Menschenjäger waren.
Meine Großväter Garabet und Setrak waren sehr gute Erzähler. Sie selbst aber fehlten in den Geschichten, die sie erzählten. Als lebten sie nicht auf dieser Erde. Geschichten ohne Erzähler, ihre Worte waren auf alten und anonymen Schriftrollen verstreut, die in Tongefäßen aufgefunden worden waren. Keiner erzählte von sich selbst. Jeder wurde zu einer Figur in der Erzählung eines anderen, und so musste man fortwährend bei diesem und jenem aufpassen, wenn man die Fortsetzung verstehen wollte. Deshalb ist die Geschichte der Armenier meiner Kindheit eine endlose Geschichte.
UND DOCH EINE GESCHICHTE VON SICH SELBST. Es geschah so. Mein Großvater Setrak setzte sich bei Einbruch der Dunkelheit in den Liegestuhl unter dem Firmament aus Weinreben seines Gartens in Craiova. Er ließ den Gebetskranz durch die Finger gleiten und schaukelte sich sachte durch den Druck seiner Fersen. Er murmelte. Dies konnte alles und jedes sein, vom Gebet bis hin zur Prophetie.
Mein Großvater Garabet schloss sich in seinem Zimmer ein und sang. Es waren seltsame Gesänge, auf Türkisch oder Arabisch, solche, wie die Derwische der Wüste sie auch heute noch singen. Das Gemurmel von Großvater Setrak und die Gesänge von Großvater Garabet kannten keine Unterbrechung. Sie atmeten anders, auch eine andere Art Luft. In solchen Momenten war es sinnlos, sie zu rufen oder an ihre Türen zu klopfen. Sie würden nicht antworten oder öffnen.
Mittlerweile war der Krieg zu Ende. Ein paar Armenier beeilten sich in diesem Durcheinander, auf die Seite der Sieger zu wechseln. Man kann aber kein Sieger sein, wenn man keine Besiegten beibringen kann. Also wurden sie an der Pforte der neu eingerichteten Botschaft der Sowjetunion vorstellig und präsentierten eine Liste mit »Kollaborateuren«, auf der, wie hätte es auch anders sein können, die gesamte Blüte der armenischen Intelligenz aus Bukarest stand. Und weil es im Herbst des Jahres 1944 keineswegs schwer war, Antikommunisten zu finden, brachten die neuen Kollaborateure nach der ersten bald auch eine zweite Liste an, und dann noch eine. Sodass selbst die Sowjets spürten, dass sie das Maß überzogen hatten. Angesichts der nicht mehr enden wollenden Listen beschloss Sava Dongulov, Konsul der Botschaft und darüber hinaus selbst Armenier, zu seiner Ehre: Hört auf! Wenn ihr in diesem Tempo weitermacht, löschen wir die ganze Gemeinschaft aus ...
Die erste Gruppe von zehn Personen, unter denen sich auch Siruni befand, wurde am 28. Dezember 1944 verhaftet. Von der Grenze aus wurden sie in einem verschlossenen Waggon nach Moskau gebracht und dort mit einem Lastkraftwagen
Weitere Kostenlose Bücher