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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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Toader Crăciun, Stroie Crăciun, Marin Mihai.
    Dann hat Großvater diese Namen unter unsere Namen gemengt, er quetschte sie auf den Papierbogen dazwischen, aber sie passten hinein, denn die Toten mit ihren schmalen Körpern, vor allem die ohne Kreuz und Gedenken, besetzten viel weniger Raum auf dieser Welt als die Lebenden.
    Als ich die Magier meiner Geburt nannte, habe ich eine Ungerechtigkeit begangen, weil ich nur Angheluță genannt habe, der mit seinen vom Staubzucker weißen Fingern leuchtete wie Kerzen, und Bobârcă, umgeben von seinen raschelnden Schatten, die aussehen wie Säcke mit Oliven, glänzend schwarzen Oliven, die sich leeren und wieder füllen, unablässig die einen aus den anderen, und Mercan, den Luftkaufmann sowie, rätselhaft, den Halva-Verkäufer, der sich beim Näherkommen entfernt und gleiche Teile abschneidet, wie die Zeit.
    Zu den Opfergaben der Magier zählen auch die gesalzenen und gerösteten Nüsse des Harutiun Fringhian. Er war derjenige, der das Geheimnis der Magier von allen am strengsten gewahrt hat. Ich kann mich in seinem Fall an nichts anderes als an seine Geschenke erinnern.
    Im
Buch des Flüsterns
habe ich mir die Position bewahrt, die sonst üblicherweise der Erzähler einzunehmen hat, nämlich eine zufällige Anwesenheit. Ich bin keine Person im
Buch des Flüsterns
, und die Dinge hätten sich ohne mich genauso zugetragen. Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Lesern dieses Buches ist, dass ich sein erster Leser bin, was, wie ich schon sagte, rein zufällig so ist.
    Aber vielleicht ist mir auch die Aufgabe, Erzähler zu sein, das heißt der erste Leser, von den vier Magiern zugewiesen worden, jenen des Lichts, des Schattens, der Luft und der Zeit, doch auch von dem fünften, von dem wir nun etwas erfahren werden, Harutiun Fringhian, dem Magier der Früchte.
    Dies sind die Früchte unserer Bräuche, sagte Großvater Garabet. Zuvörderst die Aprikose. Obstgärten mit Aprikosen blühten immer schon auf den Feldern zu den Füßen des Ararat, und erst im frühen Mittelalter brachten erste Reisende Kerne und Zweige auch ins restliche Europa, wobei sie aber nicht vergaßen, als alle Lebewesen in einer unveränderlichen Sprache ihren Namen erhielten, diese
Prunus armeniaca
zu nennen. Ihre Farbe hat man als Hintergrundfarbe für die armenische Fahne genommen, darauf befinden sich im Relief die anderen nationalen Symbole. Gewiss, nicht deshalb stand mitten im Hof unseres Hauses in Focșani ein alter Aprikosenbaum, aber ebenso gewiss ist, dass ich ihn deshalb mehr liebte als jeden anderen Baum, und die weichen Kanapees für das Geplauder zur Kaffeezeit wurden direkt unter seine runde Krone gestellt. Großvater sagte, das Orange in der Tönung der Aprikose sei die Farbe, die man am weitesten sehen kann, und diese Wahl habe sich für ein verstreutes Volk wie das unsere als äußerst klug erwiesen.
    Die zweite Frucht ist der Granatapfel. Die Frucht der Früchte. Rund wie ein Apfel, groß wie eine Quitte, säuerlich wie die Früchte Jerusalems, mit dicker Schale wie die tropischen Früchte, mit vielen Kernen, als hielte man eine Rispe mit Weinbeeren in den hohlen Händen, und quetscht man ihn aus, so lässt er einen blutfarbenen Saft fließen. Wir sind blutsverwandt mit dem Granatapfel. Die Aprikose ist die Frucht der Sesshaften. Der Granatapfel hingegen ist die Frucht der Einsamkeit und des Exodus. Da er Blut hat wie der Mensch, kann er auch Gefühle haben. Der Granatapfel kann Sehnsucht empfinden. Lange kann er unberührt abwarten. Unter allen Früchten stellt er, bei all seinem Blut, den suggestivsten Ausdruck des Opfers dar. Und von allen Früchten des Bodens hat er allein beschlossen, die Ahnen meiner Ahnen auf ihren Todesmärschen nach Deir-ez-Zor zu begleiten, in die Wüsten Mesopotamiens. Sahag Șeitanian, der mit der Schwester meines Großvaters verheiratet und mein Taufpate war, erzählte von den Granatäpfeln, die sich die abgezehrten Gespenster der Konvois weiterreichten, jeder nahm sich einen Kern und behielt ihn auf der Zunge, unerklärlich kühlend in der Sandglut. Eben deshalb, als Nahrung den Konvois durch die Wüste dienend, hat der Granatapfel dreihundertfünfundsechzig Kerne, einen Kern für jeden Tag des Jahres. Hätte Gott unter den Lebewesen nicht das Lamm zum Symbol der opferbereiten Hingabe ausgewählt, so hätte er sich gewiss für den Granatapfel entschieden. In den man nicht wie in einen Apfel beißen, dem man nicht die Beeren mit den Fingern

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