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Buch des Flüsterns

Buch des Flüsterns

Titel: Buch des Flüsterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Varujan Vosganian
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das großzügigste Testament, das im 20. Jahrhundert auf rumänischem Gebiet erdacht worden ist, sich nicht nur als zu großzügig erwies, als dass andere Menschen ihm hätten folgen können, sondern auch als zu großzügig, als dass die Zeitläufte es hätten fassen können. Hartin Fringhians Testament zählt neben den Waffen des Generals Dro, Mantus Tuba, der Mauser des Misak Torlakian oder der großen Glocke in Vadu Roșca zu den Helden im
Buch des Flüsterns
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    Harutiun Fringhian ist, wie einige weitere Personen dieses Buches, in Anatolien geboren. Genauer in der Stadt Erzerum und im Jahre 1873. Sein Geburtsjahr hat einen anderen Sinn, als uns beim Nachrechnen beizustehen; damals, als er bei meiner Geburt sich als Magier der Früchte erwiesen hat, zählte Onkelchen Hartin schon fünfundachtzig Jahre, mithin war er nicht nur der freigiebigste, sondern auch der älteste der Magier.
    Im Herbst 1914 begannen im osmanischen Heer die Einberufungen für den Krieg. Wenn wir mit der Wegkreuzung beginnen, in der Hartin Fringhian sich dafür entschied, einen anscheinend unbedachten Weg einzuschlagen, und zwar die Flucht vor der Einberufung und die Überquerung des Meeres mit einem ausgeliehenen griechischen Namen, statt jenes anderen Weges der armenischen Männer, die in den Krieg geführt wurden, wird man leicht verstehen können, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Halten wir uns an die Spuren der Männer aus Erzerum, die diese Wegkreuzung nicht wahrgenommen haben, so erfahren wir Folgendes: Da die Türken mit den Mittelmächten verbündet waren, wurden die in Erzerum einberufenen Männer an die Front im Kaukasus gegen die russischen Armeen geschickt. Im Dezember 1914 wurden die armenischen Soldaten unter dem Verdacht, sie könnten mit den Russen paktieren, zurückgezogen; es gab schließlich schon armenische Partisanentruppen, die gegen die türkische Armee kämpften. Die armenischen Soldaten aus der türkischen Armee wurden entwaffnet und im Januar 1915 in Arbeitslager geschickt. Anfang Februar gab es bei den osmanischen Truppen an der Kaukasus-Front keinen einzigen armenischen Soldaten mehr. Entwaffnet, in zerlumpten Uniformen, die Epauletten abgerissen und bewacht von türkischen Soldaten, kehrten jene Männer nach Erzerum zurück. Das Schicksal der meisten von ihnen wird von fremden Diplomaten oder Reisenden beschrieben, die sich in jenen Tagen in der Stadt befanden: Achtzig bis hundert Mann wurden aus dem Lager geführt, von den anderen abgesondert, von türkischen Soldaten und Offizieren umzingelt und mit Gewehrsalven und Bajonettstichen niedergemacht. Die Überlebenden wurden mit weiteren zweitausend Mann aus anderen Arbeitslagern ins Lager von Sebastia gebracht. Und von dort aus wurden sie, aneinandergekettet, über die Berge zu den Terrassenhängen in der Gegend von Bozanti geschickt. Im Gebirge wurden sie mit schwer vorstellbarer Rohheit umgebracht und in die Schluchten gestürzt. Es gibt unter den Armeniern kein Zeugnis eines Überlebenden, denn so etwas gab es nicht, lediglich das Manuskript von Pater Knel, Bischof von Sebastia, bezeugt die Vorgänge. Somit ist von den im September 1914 in Erzerum einberufenen Männern kein einziger mit dem Leben davongekommen. Selbstmordversuche wurden keine angezeigt, insofern können wir annehmen, dass alle durch Mord ums Leben gekommen sind. Der Tod war überall. Sich selbst umzubringen, war eine sinnlose Tat.
    Hartin Fringhian, der erst einmal als Armenier und danach als Armenier aus Erzerum nicht im Sinn hatte, sein Leben für das Reich aufs Spiel zu setzen, schnürte in einer Septembernacht 1914 sein Bündel, bestieg den Zug nach Konstantinopel und ließ sich dort auf einem Schiff anstellen, das ihn nach Constanța brachte. Weil nun das einzige Geschäft, das man mit wenig Geld und einigen Aussichten auf Erfolg begründen kann, vor allem wenn man aus einer anderen Gegend kommt und den Vorteil hat, die Preisunterschiede bei den verschiedenen Waren zu kennen, und darüber hinaus auch noch überzeugend zu reden versteht, worauf ja aller Handel gründet, richtete sich Hartin Fringhian einen kleinen Laden ein, in dem er Kaffee, Gewürze und Zuckerwaren verkaufte. Von den zuhause Zurückgebliebenen erfuhr Hartin Fringhian nun nichts mehr. Auch ich habe in meiner Kindheit nie von den zuhause Gebliebenen sprechen gehört. In meiner Briefmarkensammlung, die das Familienalbum ersetzte, hatte ich keine einzige Briefmarke aus der Türkei. In jenem Land gab es niemanden, dem

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